Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Drama in Livland

Ein Drama in Livland

Titel: Ein Drama in Livland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
unbekannte Reisende verließ seinen Platz dagegen niemals und benutzte nur die kurze Zeit, wo er sich allein befand, einen Blick nach außen zu werfen.
    »Er rührt und regt sich nicht, unser Reisegenosse, bemerkte Poch.
    – Und zu plaudern liebt er auch nicht, antwortete Broks.
    – Du weißt nicht, wer er ist?
    – Ich?… Ich habe noch nicht einmal gesehen, welche Farbe sein Bart hat!
    – Na, er wird ja das Gesicht einmal zeigen müssen, wenn wir an der Haltestelle Mittag essen.
    – Vorausgesetzt, daß er nicht ebensowenig ißt, wie er spricht,« erwiderte Broks.
    Wie viele elende Weiler lagen aber am Wege, ehe die Post das Dorf erreichte, wo zum Mittagmahl Halt gemacht werden sollte! Kaum bewohnbare Hütten, ärmliche Häuschen mit stets geschlossenen Läden, durch deren zersprungene Plankenwände Wind und Kälte des harten Winters Einzug hielten. Dennoch trifft man in Livland einen recht kräftigen Bauernschlag, die Männer mit dichtem, den Kopf einhüllenden Haarwuchs, die Frauen notdürftig mit Lumpen bedeckt, die Kinder barfüßig, Beine und Arme mit Straßenschmutz ebenso befleckt wie die Haustiere in den arg vernachlässigten Ställen. Die armseligen Muschiks! Einmal leiden sie in ihren Schlupflöchern von Wohnungen von der Hitze des Sommers, wie von der Kälte des Winters, von Regen und Schnee fast zu jeder Jahreszeit, und dann haben sie eine Nahrung, die aus schwarzem, schwerem Rindenbrot besteht, das in ein wenig Hanfsamenöl getaucht wird; dazu kommt noch eine Abkochung von Gerste oder Hafer und – freilich selten genug – ein Stückchen Speck oder geräuchertes Rindfleisch. Ein jammervolles Leben! Die Leute sind aber daran gewöhnt und kennen keine Klagen. Wozu auch?
    Glücklicherweise fanden die Reisenden, gleich am Eingang eines größeren Dorfes, wo um ein Uhr mittags neue Pferde vorgespannt wurden, in einem ziemlich guten Gasthofe eine bessere Mahlzeit vor: Spanferkelsuppe, Gurken, die in einer Schüssel mit Salzwasser lagen, große Laibe von sogenanntem Sauerteigbrot – man darf hier nicht so anspruchsvoll sein, etwa gar Weißbrot haben zu wollen – ein Gericht Lachs, der aus der Dwina gefischt war, ferner Gemüse mit frischem Speck, auch Kaviar, Ingwer nebst Rettich und dazu ein Kompot von wohlschmeckenden Waldheidelbeeren. Als Getränk trug man den unvermeidlichen Tee auf, der in so reichlicher Menge floß, daß er einen Fluß der baltischen Provinzen hätte speisen können… kurz, ein vortreffliches Mittagessen, das Poch und Broks für den ganzen Tag in die beste Laune versetzte.
    Auf den anderen Reisenden schien es eine solche Wirkung nicht zu äußern. Er ließ sich sein Essen allein in einer Ecke des halbdunkeln Raumes auftragen. Unter der nur wenig zurückgeschlagenen Kapuze wurde ein schon etwas ergrauter Bart sichtbar. Vergebens bemühten sich der Bankbeamte und der Schaffner, ihn näher zu erkennen. Er aß jedoch sehr schnell, zeigte dabei aber gute Manieren, und hatte nachher seinen Platz im Wagen schon lange vor den anderen wieder eingenommen.
    Das erregte seine Reisegefährten natürlich um so mehr, vor allem fühlte sich Poch enttäuscht, dem Schweigsamen kein einziges Wort entlocken zu können.
     

    Der Postillon lief eiligst nach vorn zu den Pferden. (S. 60.)
     
    »Wir sollen, wie es scheint, also nicht erfahren, wer dieser Mann ist! fragte Poch.
    – Ich werde dir’s sagen, antwortete Broks.
    – Wie… du kennst ihn?
    – Ja. Es ist ein Herr, der seinen Platz bezahlt hat, und das genügt mir.«
    Wenige Minuten vor zwei Uhr wurde wieder aufgebrochen und der Wagen rollte so schnell wie vorher weiter. Unter den freundlichen und schmeichelnden Zurufen: Nun vorwärts, meine Tauben! Trab, trab, meine Schwalben! und mit einiger Nachhilfe durch die Peitsche des Postillons griff das Gespann tüchtig aus.
    Wahrscheinlich hatte Poch seinen Sack voll Neuigkeiten geleert… jedenfalls erlahmte allmählich das Zwiegespräch zwischen ihm und dem Postschaffner. Etwas erschlafft bei der Verdauung eines so reichlichen Mahles und ein wenig von dem Geiste des Wodkas umnebelt, fing er bald an zu »angeln«, wie man von einer ermüdeten Person sagt, deren Kopf auf und nieder nickt, und eine Viertelstunde später lag er in tiefem Schlafe, gewiß umgaukelt von süßen Träumen, in denen das liebliche Bild Zenaïde Parenzofs auftauchen mochte.
    Inzwischen wurde das Wetter immer schlechter. Die Wolken senkten sich fast bis zur Erde herunter. Durch die sumpfigen Ebenen, in denen die Anlegung

Weitere Kostenlose Bücher