Ein Drama in Livland
sofort aufzubrechen. Das war auch die Ansicht Jean Nicolefs, doch versuchte er vergeblich auch seine Kameraden dazu zu bekehren. Es schien fast, als wären Gospodin und einige andere hier im Boden festgewurzelt, als würden sie von dem Amphitheater wie von einem Magneten angezogen.
So vergingen zwanzig Minuten. Alle gingen stillschweigend hin und her und näherten sich nur gelegentlich den nach dem Hofe zu liegenden Fenstern des Saales zwar halb unbewußt, dennoch vielleicht, um die lauten Reden darin zu vernehmen und auf verletzende Anspielungen zu antworten, wenn ihnen solche zu Gehör kämen.
Die Teilnehmer am Festmahle begannen in der Tat schon bald, Gesänge und Toaste »steigen« zu lassen. Die Köpfe waren nach Leerung der ersten Gläser wärmer geworden. Durch die Fenster hatten die jungen Leute Jean Nicolef und die anderen so nahe gesehen, daß diese mußten verstehen können, was im Saale gesprochen wurde, und dabei blieben persönliche Häkeleien nicht lange aus.
Nicolef bemühte sich noch einmal, seinen Freunden gut zuzureden.
»Kommt… wir wollen gehen, sagte er.
– Nein! erwiderte Gospodin.
– Nein… jetzt erst recht nicht! riefen die anderen.
– Ihr wollt nicht auf mich hören, nicht mit mir kommen?..
– Wir wollen bören, was die Deutschen da drin sich zu sagen unterstehen, und wenn uns das nicht paßt, so wirst du, Jean, es sein, der sich uns anschließt!
– Komm, Gospodin, wiederholte Jean, komm… ich will es!
– Warte nur noch ein wenig, antwortete Gospodin, in wenigen Minuten wirst du es nicht mehr wollen!«
Im Saale wurde es immer lauter, viele Stimmen schwirrten durcheinander, dazu das Anstoßen mit den Gläsern neben Ausrufen und Hochs, daß es wie Musketenfeuer schmetterte. Dann wurde ein gemeinsames Lied angestimmt, der auf allen deutschen Universitäten so beliebte Burschensang:
Gaudeamus igitur,
Juvenes dum sumus;
Post jucundam juventutem,
Post molestam senectutem
Nos habebit humus!
Man wird zugeben, diese Worte sind nicht gerade herzerhebend, man könnte sie nach der Melodie einer Begräbnishymne, oder zum Nachtisch ebensogut
De profundis
absingen! So urteilt man wenigstens teilweise im Auslande, in Deutschland wird das alte Lied auch weiter in Ehren gehalten werden.
Da ertönte plötzlich eine andere Stimme.
»O Riga, wer hat dich so schön gestaltet?… Das Sklaventum der Livländer? Könnten wir doch einst dein Schloß den Deutschen abkaufen und diese auf glühenden Steinen tanzen lassen!«
Gospodin war es, der diese russische Hymne mit vollem Brustton gesungen hatte.
Dann ließen seine Kameraden nach und mit ihm die Töne des Bojni »Sara-Krani«, der tief religiösen moskowitischen Hymne, erschallen.
Plötzlich flog die Tür des Festsaales auf; reichlich hundert Studenten stürmten auf den Hof hinaus. Sie umringten die Gruppe der Slawen mit Jean Nicolef in deren Mitte, der die Herrschaft über seine Kameraden völlig verloren hatte, seit diese durch die Rufe und das Verhalten ihrer Gegner auch in Hitze geraten waren. Obgleich Karl Johausen nicht unter ihnen war – er befand sich noch im Amphitheater – um sie zu Gewalttätigkeiten anzufeuern, genügte doch das überlaut gesungene, fast gebrüllte
Gaudeamus igitur
, die durchdringende Melodie der russischen Hymne beinahe zu ersticken.
In dieser Minute standen zwei Studenten Auge in Auge einander gegenüber, offenbar bereit, sich einer auf den anderen zu stürzen… Siegfried und Gospodin. Sollte der Rassenkampf allein zwischen ihnen ausgefochten werden? Würden sich nicht beide Parteien zugunsten ihrer Vertreter einmischen und der Streit zu einem allgemeinen Handgemenge ausarten, für den die Verantwortlichkeit zuletzt doch auf der Universität selbst lasten bliebe?
In Voraussicht des Tumultes, der durch das Herausströmen der Bankettteilnehmer veranlaßt werden mußte, beeilte sich der Rektor, beschwichtigend einzugreifen.
Siegfried, ein Glas in der Hand, schüttete ihm den Inhalt mitten ins Gesicht. (S 123.)
Einige Professoren, die sich ihm angeschlossen hatten, gingen auf dem Hofe von einer Gruppe zur anderen. Sie bemühten sich, die jungen Leute, die schon handgemein zu werden drohten, wieder zu beruhigen… freilich ohne besondern Erfolg. Die Autorität des Rektors wurde nicht weiter beachtet. Was konnte er auch ausrichten inmitten dieses Germanenhausens, der immer mehr anschwoll, je mehr sich der Saal des Amphitheaters entleerte!
Trotz ihrer bedeutenden Minderzahl wichen Jean
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