Ein Drama in Livland
der ganzen Stadt bekannt. Tag für Tag begegnete man ihm ja bisher, eine Geldtasche über der Schulter und unter dem Arme eine Mappe, die von einer an seinem Gürtel befestigten Stahlkette gehalten wurde, wenn er auf dem Wege war, Außenstände für die Firma Johausen einzuziehen. Ein guter, gefälliger Mann von liebenswürdigem Gemüt, hatte er den jeder achtete, überall nur Freunde, aber keinen Feind. Jetzt, wo er nach so langem Warten im Begriffe stand, Zenaïde Parenzof zu heiraten, erlaubten ihm seine Verhältnisse, dank seiner Arbeitsamkeit, seinem Verhalten, der Regelmäßigkeit seiner Lebensführung und dem Wohlwollen seiner Chefs, sich endlich für die Zukunft häuslich einzurichten, wenn er seine Ersparnisse und Einnahmen mit denen seiner späteren Gattin vereinigte. Am übernächsten Tage hatten die Verlobten vor den protestantischen Pastor treten wollen, der ihren Bund segnen sollte. Darauf war eine Feier in der Familie geplant, wozu die Kollegen von anderen Banken ihr Erscheinen zugesagt hatten, um sich an der fröhlichen, weltlichen Besiegelung des Ehebundes zu beteiligen. Man bezweifelte auch nicht, daß die Gebrüder Johausen das anspruchslose Fest mit ihrer Gegenwart beehren würden. Die Vorbereitungen dazu waren schon begonnen, ja zum Teil schon beendigt. Gerade da mußte nun Poch in einem vereinsamt gelegenen Gasthause an einer Landstraße Livlands einer ruchlosen Mörderhand erliegen! Das Aufsehen, das dieser Vorfall machte, kann man sich wohl denken.
Offenbar war es auch nicht zu verhindern, daß Zenaïde plötzlich, ohne jede Vorbereitung davon erfuhr, da sie eine Zeitung las, die die Depesche, doch keine Einzelheiten über den traurigen Fall brachte. Die Unglückliche war wie vom Blitz getroffen. Sehr bald erschienen ihre Nachbarn und dann auch Frau Johausen bei ihr, um sie zu trösten und ihre Hilfe anzubieten. Vielleicht erholte sich die Ärmste überhaupt nicht wieder von diesem furchtbaren Schicksalsschlage.
Wenn man aber das Opfer kannte, so hatte doch noch niemand eine Ahnung, wer dessen Mörder wäre. Im Laufe der beiden Tage, des 14. und des 15., wo der Richter sich mit den anderen Herren nach dem Orte der Tat begeben hatte, um den Vorfall zu untersuchen, war in dieser Beziehung noch nichts in die Öffentlichkeit gedrungen. Dazu mußte man die Rückkehr der Genannten abwarten, und vielleicht hatten auch sie noch nichts von dem Urheber des Verbrechens entdeckt.
Den Mörder, wer das auch sein mochte, traf die Verdammung, der Fluch der gesamten Einwohnerschaft. Niemand erschien es genug, ihn nach aller Strenge des Gesetzes zu bestrafen. Man bedauerte wirklich, daß es nicht mehr die Zeit wäre, wo eine Hinrichtung erst nach den schrecklichsten Folterqualen vollzogen wurde. Hierbei darf man nicht vergessen, daß dieses Schauerdrama in den baltischen Provinzen spielte, wo die Justiz gegen die zum Tode Verurteilten noch vor nicht zu langer Zeit mit unerhörter Grausamkeit auftrat. Man zwickte sie da erst mit glühender Zange und marterte sie mit Stockschlägen, zuweilen mit tausend, ja sogar mit sechstausend wuchtigen Hieben, die dann freilich nur noch einen Leichnam trafen. Man schloß Verbrecher wohl auch zwischen vier Mauern ein, wo sie elend verhungern mußten, wenn es nicht nur auf eine gewisse Zeit geschah, um von ihnen ein Geständnis zu erpressen. Dann ernährte man sie ausschließlich mit Salzfleisch und Fisch, ohne ihnen einen Tropfen Wasser zukommen zu lassen, eine Art der gerichtlichen »Fragestellung«, die oft Antworten zwangsweise zur Folge hatte.
Jetzt herrschen merklich mildere Sitten, so daß die Todesstrafe in Rußland nur für politische Verbrechen beibehalten, für solche gegen das gemeine Recht aber abgeschafft und durch Zwangsarbeit in den sibirischen Bergwerken ersetzt ist. Die Deportation für den Mörder im Kabak »Zum umgebrochenen Kreuze«… nein, das konnte die Bevölkerung Rigas nicht zufriedenstellen.
Wie schon erwähnt, waren Anordnungen zur Überführung des Ermordeten getroffen worden, obwohl es dabei nicht etwa in Frage kam, in Riga noch weitere Aufklärung über den Vorgang zu erhalten. In seinem Protokolle hatte der Doktor Hamine die Natur und Gestalt der Todeswunde ebenso wie den Eindruck von dem Stoße des Messers rings um diese sorgfältig beschrieben und festgestellt. Frank Johausen bestand aber darauf, daß die Beerdigung seines Bankbeamten in der Stadt erfolge, ein Begräbnis, dessen Kosten die Firma aus Mitleid und aus Teilnahme
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