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Ein Drama in Livland

Ein Drama in Livland

Titel: Ein Drama in Livland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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ausschließlich auf sich nahm.
    Am Vormittag des 16. erschien der Major Verder im Amtszimmer seines Vorgesetzten, des Polizeiobersten Raguenos. Dieser wartete schon ungeduldig darauf, über den Vorfall näher unterrichtet zu werden, um, wenn das nur die schwächsten Anzeichen ratsam erscheinen ließen, seine findigsten Geheimpolizisten auf die Spur des Mörders zu entsenden. Später würde es sich wohl zeigen, ob man gezwungen wäre, auch der Provinzialregierung besonderen Bericht zu erstatten. Bis auf weitere Klarlegung des Falles schien es, daß es sich nur um einen Verstoß gegen das gemeine Recht, um einen Mord in Verbindung mit Beraubung handle.
    Der Major berichtete dem Obersten Raguenos alle Einzelergebnisse der Untersuchung, die Umstände, unter denen das Verbrechen begangen worden war, die Indizien, die das Verhör am Orte ergeben, und den Befund, den der Doktor Hamine amtsgerichtlich aufgenommen hatte.
    »Ich sehe, antwortete der Oberst, daß Ihr Verdacht besonders auf den unbekannten Reisenden hinweist, der jene Nacht in der Schenke zugebracht hat.
    – Besonders auf den, Herr Oberst.
    – Und der Schenkwirt Kroff hat bei der Untersuchung kein verdachterweckendes Benehmen gezeigt?
    – Natürlich kam uns der Gedanke, daß er der Mörder sein könnte, antwortete der Major, obgleich sein Vorleben völlig einwandfrei gewesen ist. Nach den an dem Fenster im Zimmer des anderen Reisenden zurückgebliebenen Spuren aber, nach seinem so frühzeitigen Weggange, und nachdem wir in dem betreffenden Zimmer das Schüreisen gefunden hatten, womit der Laden offenbar aufgebrochen worden war, konnten wir über den Urheber des Verbrechens kaum noch im Zweifel sein.
    – Es wird sich immerhin empfehlen, jenen Kroff zu beobachten.
    – Gewiß, Herr Oberst; ich habe auch zwei Mann zur Bewachung des Hauses zurückgelassen, und der Schenkwirt selbst hat sich jede Stunde den Behörden zur Verfügung zu halten.
    – Sie nehmen also nicht an, fuhr der Oberst Raguenos fort, daß der Mord durch einen von außen durch das Fenster ins Zimmer eingedrungenen Verbrecher verübt sein könnte?
    – Das kann ich weder bestimmt verneinen noch bejahen, antwortete der Major, es ist aber kaum zu vermuten, denn alle verdächtigen Merkmale weisen auf den Reisenden hin, der mit Poch die Schenke aufgesucht hatte.
    – Ich ersehe hieraus, daß Ihre Überzeugung schon feststeht, Major Verder…
    – Meine Überzeugung, wie die des Richters Kerstorf, des Doktor Hamine und des Herrn Johausen. Bedenken Sie gefälligst, daß dieser Reisende sich stets bemüht hatte, unerkannt zu bleiben, und das ebenso als er nach dem Kabak kam, wie nachher, als er diesen wieder verlassen hat.
    – Er hat auch beim Weggange aus dem »Umgebrochenen Kreuze« nicht gesagt, wohin er sich begeben wolle?
    – Nein, Herr Oberst.
    – Liegt es nicht nahe, anzunehmen, daß er die Absicht hegte, nach Pernau zu gehen, da er Riga mit der Post verließ?
    – Das wäre wohl möglich, Herr Oberst, obgleich er seinen Wagenplatz bis Reval bezahlt hatte.
    – In Pernau ist in den Tagen des vierzehnten und fünfzehnten auch kein auffallender Fremder bemerkt worden?
    – Kein einziger, versicherte der Major Verder, obwohl die Polizei dort scharf aufgepaßt hat, da ihr der Mord noch am nämlichen Tage gemeldet worden war… Wohin sich jener Reisende gewendet hat?… Ob er in Pernau eingetroffen ist?… Wer weiß das?… Könnte er mit dem geraubten Gelde nicht auch die baltischen Provinzen überhaupt verlassen haben?..
    – Ja freilich, Herr Major, die Möglichkeit liegt ja auf der Hand, daß er bei der Nähe mehrerer Häfen Gelegenheit zum Entfliehen gefunden hätte…
    – Nun eigentlich: bald finden könnte, Herr Oberst, denn vorläufig ist die Schiffahrt auf der Ostsee und im Finnischen Meerbusen wohl kaum schon eröffnet. Nach den mir zugegangenen Berichten hat noch kein Schiff auslaufen können. Beabsichtigt der Reisende also, zur Flucht ein solches zu benutzen, so muß er schon noch einige Tage warten… entweder in einem Orte des Binnenlandes, oder in einem der Hafenplätze, in Pernau, Reval…
     

    Das junge Mädchen blieb auf der Schwelle der Haustür stehen. (S. 135.)
     
    – Oder Riga, fiel ihm der Oberst ins Wort. Warum sollte er nicht dahin zurückgekehrt sein, vielleicht gerade in der Absicht, die Polizei auf eine falsche Fährte zu führen?
    – Das erscheint mir kaum annehmbar, Herr Oberst; man muß freilich mit allem rechnen, und unsere Beamten haben auch schon Befehl, alle

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