Ein Drama in Livland
zu sagen.«
Dem Arzte erschien das unverständlich.
»Und keine Nachricht von ihm? fragte er noch einmal.
– Keine… wenigstens bis gestern war Fräulein Nicolef noch keine zugegangen.
– Kommen Sie, wir wollen Ilka aufsuchen, sagte der Arzt.
– Ja… gern. Vielleicht hat ihr der Postbote heute Morgen einen Brief von ihrem Vater gebracht, oder vielleicht ist Nicolef schon selbst wieder zurückgekehrt.«
Delaporte und der Doktor Hamine begaben sich nun nach der Vorstadt, an deren Ende das Häuschen des Lehrers lag. An der Tür angekommen, fragten sie, ob Fräulein Nicolef für sie zu sprechen sei.
Auf die bejahende Antwort der Dienstmagd wurden sie sofort nach dem Zimmer geführt, worin sich das junge Mädchen aufhielt.
»Meine liebe Ilka, begann zunächst der Doktor, ist dein Vater zurückgekehrt?
– Er ist bis jetzt noch nicht wiedergekommen«, antwortete das junge Mädchen.
An ihrem blassen, sorgenvollen Gesicht erkannte man, wie beunruhigt sie war.
»Sie haben von ihm aber Nachricht erhalten, liebes Fräulein?« nahm der Konsul das Wort.
Ein verneinendes Zeichen war Ilkas einzige Antwort.
»Diese Abwesenheit ist unerklärlich, fuhr der Doktor fort, und nicht minder das Geheimnis, in das er sie gehüllt hat…
– Wenn meinem armen Vater nicht ein Unglück zugestoßen ist, murmelte das junge Mädchen fast mit tonloser Stimme. Seit einiger Zeit kommen in Livland gar so häufig Verbrechen vor.«
Der Doktor Hamine, der über die Abwesenheit des Freundes mehr verwundert als besorgt war, suchte sie zu beruhigen.
»O, man soll nichts übertreiben, liebes Kind; jetzt kann man hier doch wohl noch mit einiger Sicherheit reisen. Freilich, nicht weit von Pernau ist ein Mord vorgekommen, und wenn auch nicht den Mörder, so kennt man doch dessen Opfer… einen bedauernswerten Bankbeamten…
– Da sehen Sie’s ja, bester Herr Doktor, erwiderte Ilka, daß die Landstraßen recht unsicher sind, und mein Vater ist nun schon seit vier Tagen abwesend. Ach, wie ich auch dagegen ankämpfe, mich verläßt die Ahnung nicht mehr, daß ein Unglück…
– Beruhige dich nur, liebes Kind, redete ihr der Arzt, ihre Hände ergreifend, zu, du darfst dich nicht vergessen. Ein junges Mädchen, so kraftvoll, so energisch… nein, ich kenne dich gar nicht wieder! Hat Dimitri von vornherein gesagt, daß er zwei bis drei Tage ausbleiben werde, so kann heute noch von keiner beängstigenden Verspätung die Rede sein.
– Ist das Ihre ehrliche Überzeugung, Herr Doktor? fragte das junge Mädchen mit einem forschenden Blick auf den bewährten Freund des Hauses.
– Gewiß, Ilka, gewiß! Ich würde auch nicht die geringste Unruhe verspüren, wenn mir die Veranlassung zu Dimitris Reise bekannt wäre. Hast du noch bei der Hand, was er dir schriftlich hinterlassen hat?
– Hier!« antwortete Ilka, während sie ein Blatt aus der Tasche zog und es dem Arzte einhändigte.
Hamine durchlas aufmerksam die wenigen Worte, konnte der kurzen Mitteilung Dimitris aber auch nicht mehr entnehmen, als dessen Tochter, die sie gelesen und immer wieder gelesen hatte.
»Er hat sich also, fuhr der Arzt fort, bei seinem Weggange nicht einmal mit einer Umarmung von dir verabschiedet?
– Nein, lieber Doktor, versicherte Ilka, und auch als er das am Abend vorher tat, schien er mit ganz anderen Gedanken beschäftigt zu sein.
– Vielleicht, bemerkte der Konsul, bedrückte den Freund Dimitri irgend eine geheime Sorge…
– Er war, wie Sie sich erinnern werden, Herr Doktor, an jenem Abend später als gewöhnlich nach Hause gekommen… zurückgehalten durch eine Unterrichtsstunde, die sich zufällig länger ausdehnte… wie er vorgab.
– Ja, ja… ganz recht, sagte der Doktor Hamine, er kam mir auch etwas befangen und anders als gewöhnlich vor. Mir, liebe Ilka, ist es aber von Wichtigkeit, zu erfahren, was Dimitri nach unserem Weggange noch getan hat.
– Er hat mir gute Nacht gewünscht und sich in seine Stube zurückgezogen, worauf ich die meinige aufsuchte.
– Er hat danach also keinen Besuch gehabt haben können, der ihn zu dieser Reise bewogen hätte?
– Nein… bestimmt nicht, erklärte das junge Mädchen. Ich glaube, er hat sich damals sofort niedergelegt, wenigstens hab’ ich aus seinem Zimmer an diesem Abend keinen Laut mehr gehört.
– Das Hausmädchen hat ihm auch nicht etwa einen Brief übergeben, der noch später eingetroffen wäre?
– Nein, Herr Doktor; ich kann versichern, daß die nach Ihrem Weggange verschlossene Haustür
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