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Ein dunkler Gesang

Ein dunkler Gesang

Titel: Ein dunkler Gesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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es überhaupt nichts Besonderes. Nicht einmal eine Kirche.»
    «Aber möglicherweise einen Prozessionsweg aus der Druidenzeit.»
    Das hatte Athena White zu Lol gesagt.
     
    Merrily sagte: «Was ist denn hier los?»
    Sie hatten den Weg mit dem Gatter gefunden, und Whiteleaved Oak lag inzwischen eine halbe Meile hinter ihnen. Merrily stand auf etwas, was früher – oder vielleicht immer noch – ein Prozessionsweg war.
    Sie sah sich um. Alles kam ihr sowohl vertraut als auch sehr fremd vor. Vertraut, weil sie vieles in der Landschaft wiedererkannte, zum Beispiel den Steinobelisken, der wie ein Borstenpinsel im Eastnor Park in Herefordshire aufragte. Oder May Hill im westlichen Gloucestershire, der von den Black Mountains bis zu den Cotswolds an seinem Pinienhain auf dem Gipfel zu erkennen war.
    An den Ausläufern der Malverns wurden drei Countys von Landmarken und Legenden zusammengehalten.
    Und fremd erschien ihr die Umgegend, weil gar nichts an der Natur zufällig wirkte. Es war, als hätte jedes Landschaftsmerkmal seine eigene, besondere Bedeutung, als spielte es eine Rolle in einem unendlichen Theaterstück. Und wenn sie noch weiter in diese Arena hineingingen – denn es wirkte genau wie eine Arena –, dann würden sie ihre eigenen Rollen zugeteilt bekommen.
    Vielleicht war das die wichtigste Lektion, die man über die Natur lernen konnte, auch wenn es bestimmt nur wenige Stellen gab, an denen man das so intensiv empfand. Orte mit –
Oh Gott, weck mich auf, bevor ich mich in Jane verwandle
– spürbar empfindungsfähiger Landschaft.
    Sie waren allein in dieser Landschaft, als sie dem Pfad über eine leichte Erhebung folgten. Die niedrigstehende Sonne verwandelte die Felder in Sandbänke, und Merrily wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas von ihrer Ankunft wusste.
    Sie können sie nicht verfehlen
, hatte Winnie Sparke gesagt.
Niemand kann sie verfehlen.
    Und sie hatte recht gehabt.
    Lol blieb etwa zwanzig Schritte entfernt von ihr stehen, als wüsste er nicht recht, wie er sich ihr weiter nähern sollte. Zog man besser die Schuhe aus?
    «Niemand hat gesagt, dass es sie noch gibt.» Seine Stimme war heiser.
    «Niemand hat gesagt, dass sie noch genutzt wird», sagte Merrily.
     
    Na gut, es war vermutlich nicht die ursprüngliche, nach der die Ortschaft benannt worden war, aber sie musste trotzdem viele hundert Jahre alt sein. Und auch ohne weiße Blätter wurzelte sie im Herzen eines alten Glaubens, der offensichtlich weiterlebte.
    Es standen noch mehrere andere Eichen in der Nähe. Junge Satellitenkirchen um diese uralte Kathedralruine.
    «Sie wird immer noch angebetet», sagte Merrily. «Und zwar ganz ernsthaft.»
    Es gab genügend Zeichen der Verehrung, um mehrere Weihnachtsbäume damit zu schmücken, doch an der riesigen Eiche mit ihrem enormen Stamm fielen sie kaum auf.
    Es waren Opfer. Bänder waren an Zweige gebunden worden, farbige Stoffstücke, Folie, Schildchen mit handgeschriebenen Botschaften, Blumen, Wollknäuel. Kleine Symbolgegenstände steckten in Rindenfalten und Geästspalten. Es waren Hunderte, manche neu, manche beinahe verrottet. Es kamen immer noch Leute, um kleine Opfer zu bringen. Die Eiche ragte im späten Licht des Sommertages immens hoch auf, und sie war das Symbol eines aktuellen, alltäglichen, reinen Heidenglaubens.
    «Ist das unangenehm für dich, Merrily?»
    Lol umrundete die Eiche mit bedächtigen Schritten.
    «Ich weiß nicht», sagte sie. «Es ist einfach … sehr menschlich. All diese Leute, die hierher pilgern, um kleine Opfergaben zu bringen, um … ich weiß auch nicht. Um ihr Überleben zu feiern?» Sie berührte den Baum vorsichtig mit einer Hand. «Was denkst du?»
    «Ehrlich gesagt, ich bin total begeistert.»
    «Hmm, das habe ich mir schon gedacht.»
    «Echt, da liest man über historische Musiktheorien, und alles klingt unheimlich überholt und theoretisch, und auf einmal entdeckt man eine Verbindung dazu über einen Punkt in der Landschaft. Und wenn man dann das erste Mal herkommt und es …»
    «Es ist ein Baum, Lol.»
    «Merrily, es ist dermaßen offenkundig
nicht … bloß … ein … Baum

    «Na ja, es ist jedenfalls bestimmt die Eiche von dem Foto über Tim Lostes Kamin. Da bin ich ganz sicher.»
    Und all die Eichen, die Loste bei sich zu Hause aufzog? Stammten sie von dieser Weißeiche ab?
    Lol trat ein paar Schritte zurück, als wäre die Atmosphäre so nah an dem gewaltigen Baum stärker aufgeladen, als er es ertragen konnte.
    «Wenn sich an einer

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