Ein dunkler Ort
in diesem dunklen Raum. Jemand war bei ihr.
Kit kämpfte gegen das schreckliche Verlangen an, sich einfach umzudrehen und stolpernd und taumelnd in ihr eigenes Zimmer zurückzurennen, aber sie tastete sich weiter vor. Die eisige Luft war überall um sie herum, sie ging ihr so unter die Haut, dass sie sonst gar nichts mehr spüren konnte.
»Wer ist da?«, rief sie zittrig. »Wer ist noch hier drinnen?«
Irgendwo, in unmittelbarer Nähe, hörte sie Atemgeräusche, tiefes, heftiges Atmen, als ob jemand weit gelaufen wäre. Je näher sie der Stelle kam, an der das Bett stehen sollte, desto eisiger wurde die Kälte. Schließlich wusste sie nicht recht, ob sie es überhaupt ertragen konnte, sich noch einen Zentimeter weiter vor zu bewegen. Mit ausgestreckter Hand tastete sie nach dem Nachttisch und der Lampe darauf. Es kam ihr vor, als würde ihre Hand sich durch eine Mauer aus Eis pressen.
Dann berührte sie den Sockel der Lampe, nestelte daran herum und fand endlich den Knopf. Sie drückte drauf – und sofort strömte wunderbares Licht in den Raum.
Blinzelnd schaute sich Kit um, ihre Augen mussten sich erst an die plötzliche Helligkeit gewöhnen. Von der Gegenwart des Fremden, wenn er denn wirklich existiert hatte, war nichts mehr zu spüren. Es war verschwunden. Um sie herum nahm alles im Raum vertraute Formen an, dieses Zimmer kannte sie so gut wie ihr eigenes. Und die einzigen beiden Menschen, die sich hier aufhielten, waren sie und Sandy.
Ihre Freundin saß kerzengerade im Bett und starrte sie mit dem leeren Blick einer Schlafwandlerin an. Ihre Haut war bläulich verfärbt, so als hätte sie sich zu lange draußen in der Kälte aufgehalten. Kit berührte sie vorsichtig am Arm.
»Du bist eiskalt!«, sagte sie. »Mensch, Sandy, zieh die Decke hoch. Was ist denn los?«
»Kit?«, sagte Sandy zögernd. »Kit, bist du das?«
»Natürlich bin ich das.« Kit zerrte an der Decke und schlang sie ihrer Freundin um die Schultern. »Deck dich zu, ehe du dir eine Lungenentzündung holst. Wie konnte dein Zimmer überhaupt so kalt werden? Sandy? Bist du wach? Du siehst so … so seltsam aus …«
»Ja. Ja, ich glaub schon.« Sandy schüttelte den Kopf, als ob sie einen Traum loswerden wollte. »Was machst du hier mitten in der Nacht?«
»Es ist schon bald Morgen«, sagte Kit. »Ich bin hier, weil du geschrien hast. Weißt du das nicht mehr?«
Sandy sah sie verständnislos an. »Nein. Nein, ich erinnere mich an nichts. Ich muss geträumt haben.«
»Deine Tür war abgeschlossen.«
»Das kann nicht sein. Du weißt doch, dass man von innen nicht abschließen kann.« Sandy hielt inne, dann wiederholte sie Kits Worte. »Sie war abgeschlossen? Meine Tür?«
»Ja, aber dann ging sie plötzlich doch auf, bei meinem zweiten Versuch. Irgendwer war hier drinnen. Ich konnte es spüren. Aber ich hab niemanden gesehen oder berührt. Du weißt doch, wie das ist, wenn man spürt, dass jemand da ist, wenn man weiß, dass ein Raum nicht leer ist?«
»Ich habe geträumt«, sagte Sandy. Ihre Stimme klang dünn und ängstlich. »Wenigstens glaube ich, dass ich geträumt habe. Da stand so eine Frau an meinem Bett. Sie war jung, vielleicht Mitte zwanzig, und sie trug ein langes Kleid, sah irgendwie altmodisch aus. Sie stand einfach nur da und schaute auf mich runter – und ich konnte sie sehen, trotz der Dunkelheit.«
»Natürlich hast du geträumt«, sagte Kit. Ihre Beine waren ganz schwach und sie setzte sich auf Sandys Bettkante. »Das kann nur ein Traum gewesen sein.«
»Ja«, sagte Sandy. »Aber … Kit … das war nicht das erste Mal.«
»Nicht?«
»Also, es ist das erste Mal, dass es so abgelaufen ist. Diese Frau, eine Fremde, und die komischen Klamotten und das alles. Aber es ist nicht das erste Mal, dass ich seltsame Träume habe. Ich hab dir doch erzählt, dass ich bei meinen Großeltern lebe?«
»Ja.«
»Meine Eltern sind vor drei Jahren gestorben«, sagte Sandy. »An ihrem fünfzehnten Hochzeitstag. Dad hatte als Überraschung für Mom eine Reise gebucht. Das sollte eine zweite Hochzeitreise sein. Sie wollten auf die Bahamas fliegen. Das Flugzeug ist über dem offenen Meer abgestürzt. Das Wrack wurde nie gefunden.«
»Das ist ja grauenhaft«, hauchte Kit. »Das tut mir so leid.«
»Ich war bei meinen Großeltern«, sagte Sandy. »Das Verrückte war, ich wusste Bescheid. Ich wusste es im selben Moment, in dem es passierte. Ich war in der Küche und hab meiner Oma bei den Vorbereitungen fürs Abendessen geholfen, und
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