Ein dunkler Ort
Bewusstseins. Trotzdem konnte sie sich meistens nicht daran erinnern, wovon sie geträumt hatte. Sie musste schon todmüde sein, wenn sie das Licht ausmachte und sich schlafen legte, deshalb hatte sie sich angewöhnt, spät abends noch zu lernen und Briefe zu schreiben.
Liebe Tracy, tippte sie jetzt. Tut mir leid, dass Du so lange auf einen Brief von mir warten musstest. An meinem ersten Tag hier habe ich einen Brief an Mom losgeschickt, damit er schon da ist, wenn sie in Cherbourg ankommt. Und dann bin ich in Schularbeiten ertrunken. Abgesehen davon hab ich mich so an E-Mail und SMS gewöhnt, dass ich es megalästig finde, echte Briefe zu schreiben, die in Umschläge gesteckt, adressiert und gestempelt werden müssen.
Hier muss ich mehr für die Schule lernen als zu Hause, was hauptsächlich an den kleinen Kursen liegt. Wir sind nur zu viert hier. Unglaublich, oder? Vier Schülerinnen an der ganzen Schule. In Mathe und Naturwissenschaften unterrichtet mich Professor Farley, ein süßer alter Mann mit einem komischen kleinen Bart. Echt nett. In Literatur hab ich Madame Duret. Und Klavierstunden bei Jules! Eigentlich sollte ich jetzt eine ganze Reihe voller Ausrufezeichen hinter seinen Namen setzen!!! Damit Du Dir ungefähr vorstellen kannst, wie er aussieht. Wenn mein Handy doch nur ein Netz finden würde … Dann könnte ich Dir ein Bild schicken. Aber lass es mich so sagen: Auf einmal finde ich Musik total interessant.
Die drei anderen Mädchen hier sind ziemlich verschieden. Sandy Mason mag ich am liebsten. Sie ist still und schüchtern, aber echt nett. Ich hab schon angefangen, sie ein bisschen aufzumischen und finstere Pläne zu schmieden, den anderen Mädels Streiche zu spielen. Oder nachts den Kühlschrank zu plündern und das Essen mit aufs Zimmer zu nehmen und eine Mitternachtsorgie zu veranstalten. Lynda Hannah und Ruth Crowder kannten sich schon vorher. Sie waren letztes Jahr auf derselben Schule, und als Ruths Eltern beschlossen, sie nach Blackwood zu schicken, hat Lynda ihre Mutter überredet, sie auch die Schule wechseln zu lassen. Ruth ist nicht besonders hübsch, aber megaschlau. Lynda ist das genaue Gegenteil: hübsch, aber total hohl. Sie ergänzen sich also prima.
Ich kapier immer noch nicht, wie wir ausgewählt wurden.Professor Farley sagt, wir haben die »besonderen Eigenschaften«, auf die sie bei ihren Schülern Wert legen, aber ich habe keine Ahnung, welche das sein sollen. Wir scheinen überhaupt keine Gemeinsamkeiten zu haben, und ich verstehe echt nicht, warum Du nicht angenommen worden bist. Ich hab versucht, mir das von Madame Duret erklären zu lassen, aber sie hat nur gesagt, dass sie über Testergebnisse nicht diskutiert.
Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es mir hier gefällt. Manches ist schon gut. Alle sind wirklich nett zu mir und der Unterricht ist auch interessant. Aber hier ist was – ich weiß nicht, wie ich es in Worte fassen soll, und Du würdest mich wahrscheinlich auslachen, wenn ich es versuchte – aber ich hab das unheimliche Gefühl, dass hier irgendwas nicht stimmt. Zum ersten Mal hab ich es gespürt, als wir durchs Tor und die Einfahrt hoch fuhren … Und jetzt wird es jeden Tag stärker, so als ob …
Jemand schrie. Irgendwo in der Finsternis auf der anderen Seite der Tür. Es war ein seltsamer Schrei, der plötzlich abbrach, so als wäre jemandem der Mund zugehalten worden.
Das Geräusch durchzuckte Kit wie ein Stromschlag. Ihre Hand zitterte und sie tippte eine Reihe Unsinn. Dann richtete sie sich kerzengerade im Bett auf und saß angespannt und total erschüttert da und lauschte. Nichts als Stille.
Aber ich habe es gehört , sagte sie sich. Ich weiß, dass ich es gehört habe. Irgendwo in den Schlafräumen hatte jemand aufgeschrien. Vor Schmerz? Vor Angst? Vielleicht war es nur ein Albtraum gewesen, aber vielleicht gab es ja doch einen anderen Grund. Vielleicht schrie jemand um Hilfe?
Ich mach das nicht , dachte Kit. Ich kann das nicht. Ich bringe es einfach nicht fertig, die Tür aufzumachen und da rauszugehen.
Aber wenn nun eines der anderen Mädchen krank war? Ohne Grund schrie schließlich niemand. Lag da jetzt in diesem Moment womöglich ein Mädchen in ihrem Zimmer – zitternd vor Angst oder Schmerzen und hoffte inständig, dass ihr Ruf gehört worden war, dass ihr jemand zu Hilfe kam?
Langsam, wie von etwas anderem als ihrem eigenen Willen angetrieben, stand Kit vom Bett auf, ging quer durchs Zimmer und öffnete die Tür. Die schreckliche
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