Ein dunkler Ort
ich mich manchmal kaum zum Aufstehen zwingen.«
»Na, vom Tisch aufstehen sollten wir jetzt aber wirklich.« Ruth schaute auf die Uhr. »In ein paar Minuten haben wir Literatur mit Madame. Was hast du heute Morgen für Unterricht, Kit?«
»Musik«, sagte Kit.
»Jules … ganz für dich allein? Hast du ein Glück!« Lynda kicherte und warf die blonden Locken zurück. »Wenn ich gewusst hätte, dass es hier einen Lehrer gibt wie ihn, hätte ich mich auch für Klavierstunden eingetragen. So wie die Dinge liegen, krieg ich ihn nicht mal dazu, in meine Richtung zu gucken.«
»Er ist wohl eher von der stillen Sorte«, meinte Ruth. »Ich hab den Eindruck, er hat sich ganz seiner Arbeit verschrieben. Nicht, dass ich Interesse an ihm hätte.«
»Na, ich aber«, sagte Lynda. »Wahrscheinlich ist er der einzige Mann, den wir bis zu den Weihnachtsferien zu Gesicht kriegen werden. Es sei denn, man zählt Professor Farley mit.«
Die Küchentür ging auf und Natalie kam mit einer Kanne Kaffee rein. Sie nickte nur kurz in Richtung der Mädchen, doch als sie Kit sah, wurde ihr Gesicht freundlicher.
»Morgen, Miss«, sagte sie. »Kann ich Ihnen was zum Frühstück bringen?«
»Nein danke, Natalie«, sagte Kit. »Ich bin heute Morgen nicht hungrig.«
Natalie stellte die Kaffeekanne auf den Tisch.
»Sie sollten aber etwas essen«, sagte sie. »Sie werden so mager.«
Eine Wolke von Kaffeeduft stieg auf, und Kit, die diesen Geruch normalerweise liebte, merkte, wie sich ihr Magen zusammenzog, eine Welle von Übelkeit erfasste sie.
»Dazu habe ich jetzt keine Zeit mehr«, sagte sie. »Ich bin spät dran. Ich hole das heute Mittag nach.« Mit einem Nicken verabschiedete sie sich von den Mädchen und ging aus dem Zimmer.
Jules Duret erwartete sie schon im Musikzimmer. Er trug ein blassblaues Hemd und dunkle enge Jeans. Mit einem aufgeschlagenen Notenheft auf dem Schoß saß er in einem Sessel am Fenster, las aber nicht. Er wirkte wie jemand, der schon sehr lange wartete.
Als Kit hereinkam, schaute er mit ernstem Gesicht auf.
»Du hast dich verspätet«, sagte er an Stelle einer Begrüßung. »Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr.«
»Entschuldige«, sagte Kit. »Letzte Nacht habe ich nicht gut geschlafen und heute Morgen bin ich nicht rechtzeitig wach geworden.«
Man konnte nur zu leicht vergessen, dass dieser gutaussehende junge Mann ein Lehrer war. Er schien kaum älter zu sein als die Jungs, mit denen sie zu Hause befreundet gewesen war, aber so umwerfend wie Jules mit seinen dunklen Haaren und dem dunklen Teint war keiner von denen gewesen. Doch irgendwie hatte er etwas Zurückhaltendes an sich, das die Kommunikation schwierig machte, und Kit, die normalerweise genauso locker mit Jungs reden konnte wie mit Mädchen, fühlte sich in seiner Gegenwart immer ein bisschen befangen.
»Hast du geübt?«, fragte Jules jetzt. »Setz dich und lass mich hören, wie weit du gekommen bist. Wir fangen mit ein paar Tonleitern zum Warmwerden an, bevor wir zu den eigentlichen Stücken kommen.«
Kit nahm auf der Klavierbank Platz. Sie legte die Finger auf die Tasten – und stellte verblüfft fest, dass sie so steif und empfindlich waren, als hätte sie schon Stunden gespielt.
»Jules?«, sagte sie.
»Ja?«
»Ich … ich glaub, ich will heute Morgen nicht spielen.« Kit nahm die Hände von den Tasten und ließ sie in den Schoß fallen. Ich bin müde , dachte sie. Ich bin so schrecklich müde und ich habe Angst und brauche jemanden zum Reden. Ich brauche einen Freund.
Sie schaute auf und begegnete dem geheimnisvollen, tiefen Blick ihres Gegenübers. War Jules Duret ein Freund? Keine Ahnung , dachte sie. Vielleicht mochte er sie nicht mal. Aber wer blieb dann noch übrig zum Reden? Sandy stand total neben sich und Lynda und Ruth waren ihr auch keine große Hilfe.
»Können wir ein paar Minuten reden?«, fragte sie mit dünner Stimme.
»Reden?« Jules schien die Augen ein wenig zusammenzukneifen. »Worüber denn?«
»Blackwood?«
»Was ist mit Blackwood?«
»Ich weiß nicht«, sagt Kit. »Es ist nur … ich weiß auch nicht. Irgendwas stimmt nicht mit Blackwood, hier ist etwas Finsteres. Wir spüren es alle, aber es ist unmöglich, es in Worte zu fassen. Und es sind Dinge vorgefallen.«
»Was meinst du?«, fragte Jules interessiert.
»Nun, zum einen haben wir alle Träume. Sandy hat letzte Nacht geträumt, dass jemand in ihrem Zimmer war. Sie hat laut geschrien. Ich hab sie gehört und bin zu ihrem Zimmer gegangen, weil ich
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