Ein dunkler Ort
Madames, scharf und im Befehlston, Professor Farleys und die von Jules, der etwas fragte. Wieder grollte Donner, dieses Mal aus größerer Entfernung. Die Tür ging auf.
»Mädchen?«, sagte der Professor. »Ist bei euch alles in Ordnung?«
»Glaub schon«, sagte Ruth. »Wissen Sie, was passiert ist?«
»Der Blitz hat vermutlich in den großen Baum vor dem Esszimmerfenster eingeschlagen. Jules schaut nach und Madame sucht in der Küche nach den Kerzen. Dort sollte ein Vorrat auf dem Tisch bereit liegen.«
»Wenigstens haben wir einen Kamin«, sagte Sandy. »Wir können so tun, als wären wir beim Camping und Marshmallows rösten und Gespenstergeschichten erzählen.« Einen Moment lang war alles still, dann begriff sie, was sie da eigentlich gesagt hatte, und sie fing an zu lachen. Es war ein hohes, seltsames Lachen, und sie konnte überhaupt nicht wieder aufhören, es sprudelte aus ihr heraus wie aus einer geschüttelten Seltersflasche, wild und unkontrolliert.
»Hör auf«, sagte Ruth.
Aber Sandy konnte nicht aufhören. Sie setzte sich vor den Kamin und starrte Ruth mit weit aufgerissenen, ängstlichen Augen an und lachte immer weiter, während ihr Tränen in feuerfarbenen Bächen die Wangen runterliefen und der Wind um die Hausecken heulte und das Trommeln des Regens übertönte.
»Sandra? Liebes Mädchen.« Der Professor bewegte sich auf seine langsame Altmännerart durch den Raum auf sie zu, sein Schatten wurde vom Feuerschein grotesk verzerrt an die Wand geworfen. Er beugte sich über Sandy, um ihr ins Gesicht zu sehen. »Bitte, mein Kind. Du musst die Fassung wiedergewinnen.«
»Das kann sie nicht«, sagte Ruth. »Sie ist hysterisch.«
»Das scheint tatsächlich der Fall zu sein.« Der Professor hob den Kopf. »Eins von euch Mädchen muss Madame Duret holen. Sie wird wissen, was zu tun ist.«
»Im Dunkeln?« Ruth wollte nicht. »Die Küche ist so weit weg.«
»Ich gehe«, sagte Kit
»Im Stockdunkeln? Du wirst dich auf dem Flur verirren.«
»Nein. Werde ich nicht.« Im Stillen verfluchte Kit sich für den Eifer, der in ihrer Stimme mitschwang. Wie war es möglich, dass sie das nicht wahrnahmen und Verdacht schöpften? Aber sie beugten sich beide über Sandy. Keiner sah Kit an, keiner hielt sie auf.
Sie ging zur Tür hinaus, zog sie hinter sich zu und tastete sich in der totalen Finsternis den Flur entlang. Sie hatte keine Angst. Zum ersten Mal seit Wochen empfand sie nicht das geringste bisschen Furcht.
Sie bewegte sich zielstrebig auf die Sache zu, die sie tun wollte. Doch sie beeilte sich, denn sie hatte wenig Zeit. Jetzt konnte Madame jeden Augenblick mit den Händen voller Kerzen aus einer der Türen am anderen Ende des Flurs treten. Kit hielt sich nah an der Wand, tastete sich mit einer Hand vor und versuchte abzuschätzen, wie weit sie gekommen war und wie weit sie noch zu gehen hatte. Sie hatte die Tür vom Musikzimmer erreicht, ihre Hand fühlte den Rahmen, ging über die Leere der offenen Tür hinweg, stieß dann auf die Wand auf der anderen Seite der Türöffnung. Sie fing an, ihre Schritte zu zählen, eins, zwei, drei, vier. Wie weit mochte es von hier bis zur Tür von Madame Durets Büro noch sein? Sie versuchte, in ihrer Vorstellung ein Bild heraufzubeschwören, aber die tiefe Dunkelheit um sie herum löschte sämtliche Erinnerungen an das Aussehen des Flurs bei Tageslicht aus.
Zehn, elf, zwölf … war sie womöglich schon zu weit gegangen? Hatte sie die Tür irgendwie verpasst? Oder, schlimmer noch, hatte sie vielleicht völlig die Orientierung verloren und bewegte sie sich auf die Tür zum Esszimmer zu?
Gott, hoffenlich nicht , dachte Kit. Wenn ich da lande, schaffe ich es nie, umzukehren und noch mal von vorne anzufangen.
Dreizehn, vierzehn, hier war sie. Unter ihrer Hand spürte sie, wie die Täfelung der Wand vom harten, glatten Holz der Tür durchbrochen wurde. Mit einem erlösten Aufatmen tastete Kit darüber, ganz vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter. Beim ersten Mal fand sie den Knauf nicht. Beim zweiten Versuch gelang es ihr. Mit einem stummen Gebet legte Kit die Hand darum und drehte ihn um. Er bewegte sich so leicht, dass sie fast vornübergefallen wäre, als die Tür sich in den Raum hinein öffnete.
Und dann war sie im Büro. Sie wusste es, weil sie den Teppich unter ihren Füßen spürte und den schwachen Geruch nach Farbe von Lyndas Bildern wahrnahm, die hier gelagert wurden. Obwohl sie erst ein Mal in diesem Raum gewesen war, hätte Kit jeden Zentimeter
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