Ein dunkler Ort
wussten, dass sie seit dem Vorabend nichts mehr gegessen hatten. Lucretia hatte ihren freien Abend, auf dem Tisch stand kaltes Fleisch bereit, das sicher schon mal frischer gewesen war, und eine Schüssel voller in Mayonnaise schwimmendem Kartoffelsalat. Die Kerzen flackerten wild und hinter den hohen Fenstern zuckte gelegentlich ein Blitz über den schwarzen Himmel.
Als sie das Essen auf ihre Teller gefüllt hatten, sah es noch unappetitlicher aus.
»Ich pack das nicht«, sagte Sandy. »Tut mir leid, aber das krieg ich einfach nicht runter.«
»Irgendwas müssen wir essen«, sagte Kit. »Wir brauchen alle Kraft, die wir nur kriegen können.« Aber nach ein paar Bissen schob auch sie ihren Teller von sich. Donner grollte durch den Raum und der Kronleuchter begann zu schaukeln, wie ein verziertes Pendel bewegte er sich langsam hin und her, während Hunderte kleiner Kristalle das Kerzenlicht brachen und seltsame leuchtende Muster an die Wand warfen. Draußen heulte der Wind und die Äste kratzten an den Fenstern wie krallende Hände.
»Komm, wir gehen in den Salon«, sagte Kit. »Da ist wenigstens ein Feuer.«
Ruth war schon da, sie blätterte das Notizbuch durch, von dem sie sich nie trennte, und aß ein Erdnussbutterbrot.
»Ich bin selber in die Küche gegangen und hab es mir geschmiert«, sagte sie, nachdem sie sich das letzte Stück in den Mund gestopft hatte. »Das Zeug auf dem Tisch sah so eklig aus.«
»Gute Idee. Vielleicht machen wir das später auch.« Kit stellte sich vor den Kamin. Die Hitze war so angenehm am Rücken, und das Knistern der Holzscheite war das erste fröhliche Geräusch, das sie seit Langem hörte.
»Gib ihr doch das Gedicht«, schlug sie Sandy vor, »lass uns mal hören, was sie dazu sagt.«
»Mal wieder was von Ellis?« Ruth klappte ihr Heft zu.
»Nein«, sagte Sandy. »Das ist französisch. Ellis schreibt auf Englisch.« Sie holte das Blatt aus der Tasche und hielt es Ruth hin.
Ruth beschäftigte sich eine Weile still damit, ihr Blick flog über die Zeilen. »Wow!«, sagte sie leise. »Ihr werdet nicht wollen, dass ich euch das vorlese.«
»Warum denn nicht?«
»Das ist nichts für euch. Das ist … das ist nicht so wie diese anderen Sachen, die du geschrieben hast.«
»Egal«, sagte Sandy. »Ich will es hören. Ich will wissen, was ich geschrieben habe.«
»Na, gut.« Ruth verzog das Gesicht ein wenig. »Aber ich hab euch gewarnt.« Sie fing an zu lesen, langsam, mit ausdrucksloser Stimme. Ein Wort folgte aufs andere, Kit stand wie gebannt vor dem Kamin und konnte nicht glauben, was sie da hörte. Sandy wurde immer bleicher, schließlich beendete sie den Vortrag mit einer Handbewegung.
»Schluss jetzt. Lies nicht weiter.«
»Hab ich doch gesagt, ich wusste, dass ihr das nicht hören wollt«, meinte Ruth.
»Das ist ja ekelhaft«, sagte Sandy mit erstickter Stimme. »Solche Wörter habe ich im Leben nicht benutzt. Das ist einfach widerlich, das ganze Ding. Ich könnte kotzen.«
»Na, meine Schuld ist das nicht«, sagte Ruth. »Ich hab das nur vorgelesen, so wie du wolltest. Wer ist der Autor, wenn ich mal fragen darf?«
»Ich will nicht dran denken.« Sandy wandte sich zu Kit um. »Kannst du dir nicht vorstellen, was das für ein unheimlicher Perverser mit Dachschaden sein muss, der so einen Müll von sich gibt?« Sie schüttelte sich. »Ich fühl mich total dreckig, nur weil ich den Stift gehalten habe. Ich wünschte, ich hätte nie …«
Sie brach den Satz ab, denn grelles Licht zuckte durch den Raum. Ein enormer Donnerschlag folgte unmittelbar darauf, die Decke schien sich zu heben und ein Bild fiel mit Gepolter von der Wand neben dem Fenster. Im selben Augenblick flackerte das elektrische Licht und verlosch.
In der plötzlichen Stille, die darauf folgte, konnte Kit ihr Herz im Rhythmus des trommelnden Regens schlagen hören.
»Das …« Sie wollte sprechen, stellte aber fest, dass sie ihre Stimme aus der Kehle pressen musste. »Das war knapp.«
Ruth nickte. Die zuckenden Flammen des Kaminfeuers spiegelten sich in ihrer Brille. »Ich wette, der ist in den Schornstein eingeschlagen.«
»Und jetzt ist das Licht aus. Na, klasse«, sagte Sandy zittrig. »Kannst du dir vorstellen, diese Treppe hochzusteigen und im Dunkeln dein Zimmer zu suchen?«
»Das will ich mir nicht vorstellen«, sagte Kit. »Ich schlafe hier. Wir losen, wer das Sofa kriegt.« Sie hatte einen leichten Ton anschlagen wollen, aber das war ihr nicht gelungen. Im Flur waren Stimmen zu hören.
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