Ein dunkler Ort
dass ich das sage, aber du siehst furchtbar aus. Bist du krank gewesen?«
»Ja«, sagte Kit. »Wir sind alle krank! Das ganze Haus ist krank! Natalie, nimm mich mit!«
»Ich? Du meinst, ins Dorf?«
»Egal. Irgendwohin. Ins Dorf, das wäre gut. Einfach irgendwohin, wo ich telefonieren kann. Bitte, Natalie!«
»Es ist kalt draußen. Du hast keinen Mantel an.«
»Macht nichts. Ich frier schon nicht.«
»Die Madame wäre außer sich«, sagte Natalie unsicher. »Sie wird mich wegen Entführung verhaften lassen. Schreib doch einfach an deine Leute und lass dich abholen. Das wäre doch die beste Art, hier wegzukommen, wenn du das willst.«
»Das geht nicht«, sagte Kit verzweifelt. »Unsere Briefe werden alle …« Sie brach den Satz ab, denn sie hörte, wie hinter ihr eine Tür aufging. Einen Moment lang herrschte Stille. Kit brauchte sich nicht umzudrehen. Sie konnte an Natalies Gesicht ablesen, wen sie sehen würde.
»Natalie!« Madame Durets Stimme war wie Eis. »Bitte, verlass uns jetzt. Ich habe dir deinen Lohn gegeben und ich habe dich nicht gebeten, zu Besuch zu bleiben.«
»Ja, Madame.« Der reine Hass sprühte aus Natalies Augen. Trotzig wandte sie sich an Kit.
»Auf Wiedersehen, Kit. Pass gut auf dich auf. Ich hoffe, es geht dir bald besser.«
»Warte, bitte!« Kit rang nach Worten und dann, mit letzter verzweifelter Anstrengung zog sie den Brief aus der Tasche ihrer Jeans und drückte ihn Natalie schnell in die abgearbeiteten Hände. »Hier«, flüsterte sie hastig, »nimm ihn mit und schicke ihn ab.«
Natalie warf einen Blick auf das zerknüllte Papier, sie war ratlos.
»Abschicken? An wen denn?«
»Tracy Rosenblum«, sagte Kit. »Sie wohnt in …«
»Kathryn!« Madame stand direkt hinter ihr. »Komm rein, bleib nicht in der Tür stehen. Du erkältest dich noch.«
Natalie warf ihr einen verschreckten Blick zu und ging eilig nach draußen, sie zog die Tür hinter sich zu. Den Brief hielt sie in der Hand, aber Kit verspürte kein Triumphgefühl.
Es war völlig ausgeschlossen, dass Natalie den Brief abschicken konnte, wenn keine Adresse angegeben war.
SIEBZEHN
In dieser Nacht kam Wind auf. Zuerst war ein dünnes Winseln zu hören, als ob quengelnde Kinder in der Ferne miteinander stritten, dann schienen sie näher zu kommen, sie kreischten und heulten in den höchsten Tönen im Geäst der Bäume draußen vor dem Zaun, hielten auf die Türen von Blackwood zu und begehrten Einlass.
Die ganze Nacht lang strichen sie ums Haus, rüttelten an den Fenstern, jaulten an den Ecken, jammerten im Gebälk bis zum Morgen. Kit war sicher, nicht einen Augenblick geschlafen zu haben.
Dann merkte sie, dass ihre rechte Hand völlig verkrampft war und dass das Notenheft auf ihrem Schreibtisch zur Hälfte vollgeschrieben war.
»Mit mir ist es genauso«, erzählte Sandy ihr später. »Ich versuche, dagegen anzukämpfen, aber ich halte nicht lange durch. Ich nehme mir vor, nicht zu schlafen, und dann ist es plötzlich Morgen – und ich habe doch geschlafen.«
Entschuldigend hielt sie Kit ein Blatt Papier hin.
»Noch ein Gedicht?« Kit war einen Blick auf das Blatt und gab es zurück. »Kann ich nicht lesen. Das ist Französisch.«
»Ich kann es auch nicht lesen. Es ist aber meine Handschrift, daher weiß ich, dass ich es aufgeschrieben habe.«
»Sollen wir Ruth um eine Übersetzung bitten?«
»Ich mag sie nicht fragen«, sagte Sandy. »Sie wird es genießen – und ich will nicht, dass sie es genießt. Klingt schrecklich, oder?«
»Ja«, sagte Kit. »Aber ich weiß, was du meinst. Sie hat solche Freude an diesen Sachen, ich könnte sie schlagen.« Sie hielt inne, dann sagte sie: »Wir haben keine große Auswahl. Entweder fragen wir Ruth oder Madame oder Jules, und da ist Ruth noch die Beste. Du willst doch wissen, was du geschrieben hast, oder?«
»Glaub schon«, sagte Sandy und steckte das Blatt wieder ein. Aber sie rührte keinen Finger, um Ruth zu finden. Kit auch nicht. Sie war völlig erschöpft und hatte das Gefühl, die ganze Nacht draußen einen Marathon gelaufen zu sein. Den größten Teil des Tages verbrachten sie ins Sandys Zimmer, sie lasen und redeten ein bisschen und spielten ohne große Begeisterung Karten. Am späten Nachmittag fing es an zu regnen, zuerst ganz leicht, dann stärker, und noch vor dem Abend war aus dem leisen Plätschern ein dumpfes Prasseln geworden.
Um halb sieben gingen sie runter ins Esszimmer, nicht, weil sie besonders hungrig gewesen wären, sondern eher weil sie
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