Ein Earl mit Mut und Leidenschaft
hielt den Atem an. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie nahe sie ihm gekommen war.
Ihre Lippen öffneten sich. Und sie wollte ...
Zu viel. Sie hatte immer zu viel gewollt.
Sie rutschte ein Stück nach hinten, ein wenig verstört davon, wie sehr sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Er war ein Mann, der gern und oft lächelte. Man musste nicht viel Zeit mit ihm verbringen, um das zu erkennen. Weswegen der scharfe, ernste Unterton in seiner Stimme sie so gebannt hatte.
„Aber ein Stück den Flur hinunter finden Sie wahrscheinlich welchen“, sagte er plötzlich, und der merkwürdige Bann war gebrochen. „Die dritte Tür rechts. Da war früher das Arbeitszimmer meines Vaters.“
„Im hinteren Teil des Hauses?“ Das kam ihr ungewöhnlich vor.
„Das Zimmer hat zwei Eingänge. Die andere Seite geht auf den Hauptgang hinaus. Jetzt dürfte sich dort niemand aufhalten, seien Sie aber trotzdem vorsichtig, wenn Sie hineingehen.“
Anne stand auf und schlug den beschriebenen Weg ein. In dem Arbeitszimmer schien der Mond durch die Fenster, und so entdeckte sie die Karaffe sofort. Sie nahm das ganze Ding mit und schloss sorgfältig die Tür hinter sich.
„Auf dem Regal am Fenster?“, fragte Lord Winstead, als Anne wieder bei ihm war.
„Ja.“
Er lächelte. „Manche Dinge ändern sich eben nie.“
Anne zog den Stopfen aus der Karaffe, legte das Taschentuch über die Öffnung und kippte großzügig Brandy auf den Stoff. Sofort roch es durchdringend nach Alkohol. „Stört Sie das?“, fragte sie in plötzlicher Sorge. „Der Geruch?“ In ihrer letzten Stellung - direkt bevor sie bei den Pleinsworths zu arbeiten begonnen hatte - hatte der Onkel ihres Schützlings dem Alkohol zu sehr zugesprochen und dann damit aufgehört. Seine Gegenwart war äußerst schwer zu ertragen gewesen. Ohne Alkohol war er sogar noch reizbarer gewesen, und wenn er auch nur das kleinste Tröpfchen Alkohol gerochen hatte, war er vollkommen außer sich geraten.
Anne hatte kündigen müssen. Aus diesem und anderen Gründen.
Doch Lord Winstead verneinte. „Es ist nicht so, als könnte ich keinen Alkohol trinken. Ich will nur nicht.“
Ihre Verwirrung musste sich in ihrem Gesicht widergespiegelt haben, denn er fügte hinzu: „Ich habe kein Verlangen danach, er ist mir einfach zuwider.“
„Verstehe“, antwortete sie. Anscheinend hatte er ebenfalls Geheimnisse. „Das brennt jetzt vermutlich“, warnte sie ihn.
„Es brennt besti... aua!“
„Tut mir leid“, meinte sie und rieb vorsichtig mit dem Taschentuch über die Wunde.
„Ich hoffe, dass sie das verflixte Zeug kannenweise über Marcus schütten“, brummte er.
„Nun, er sieht ja schlimmer aus als Sie“, erwiderte sie. Verwundert blickte er auf, und dann breitete sich ein Lächeln über sein Gesicht. „Allerdings.“
Sie wandte sich seinen zerschrammten Knöcheln zu und murmelte: „Ich habe es aus zuverlässiger Quelle.“
Er lachte, doch sie blieb ernst. Die Situation hatte etwas unglaublich Intimes, wie sie sich über seine Hand beugte und seine Wunden reinigte. Sie kannte den Mann nicht, und doch widerstrebte es ihr, diesen Augenblick loszulassen. Es lag nicht an ihm, sagte sie sich. Es war nur ... Es war schon so lange her ...
Sie war einsam. Das wusste sie. Es war keine große Überraschung.
Sie wies auf die Wunde an seiner Schulter und hielt ihm das Taschentuch hin. Sein Gesicht und seine Hände waren eine Sache, aber seinen Körper konnte sie unmöglich berühren. „Vielleicht sollten Sie ...“
„Oh nein, lassen Sie sich bitte nicht aufhalten. Eine so zarte Fürsorge tut ungemein gut.“
Sie warf ihm einen Blick zu. „Sarkasmus steht Ihnen nicht.“ „Nein“, sagte er amüsiert, „hat es noch nie.“ Er beobachtete sie, wie sie noch mehr Brandy auf das Taschentuch schwappen ließ. „Außerdem war das gar kein Sarkasmus.“
Über diese Behauptung wollte sie lieber nicht allzu genau nachdenken. Stattdessen presste sie das nasse Tuch an seine Schulter und sagte energisch: „Das brennt jetzt bestimmt.“ „Aaaah-aaaaaaaaaaaah“, schrie er, und sie musste lachen. Er klang wie ein schlechter Opernsänger oder wie ein Possenreißer im Kasperletheater.
„Das sollten Sie öfter tun“, sagte er. „Lachen, meine ich.“ „Ich weiß.“ Sie merkte selbst, welch traurigen Eindruck sie mit dieser Antwort erwecken musste und beeilte sich hinzuzufügen: „Ich bekomme allerdings nicht so oft Gelegenheit, erwachsene Männer zu quälen.“
„Wirklich?“,
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