Ein Earl mit Mut und Leidenschaft
der Fall war, sondern weil sie so erstaunt war, dass er so lang im Flur hatte bleiben können, ohne den geringsten Laut zu verursachen. Sie hatte wirklich nichts gehört.
Aber das war nicht der Grund, warum ihr der Mund offen stand.
„Sie sehen ja schrecklich aus“, sagte sie, bevor sie es sich noch hätte verkneifen können. Er war allein, saß auf dem Boden, die langen Beine in den Gang gestreckt. Anne hätte nicht gedacht, dass jemand im Sitzen torkeln konnte, aber es machte doch ganz den Anschein, dass der Earl umgefallen wäre, wenn er nicht an der Wand gelehnt hätte.
Er hob eine Hand und grüßte lässig. „Marcus sieht noch schlimmer aus.“
Sie betrachtete sein Auge, das am Rand bläulich anzulaufen begann, und sein Hemd, das voller Blutflecken war, die wer weiß woher stammten. Oder von wem. „Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.“
Lord Winstead stieß den Atem aus. „Er hat meine Schwester geküsst.“
Anne wartete auf mehr, doch offenbar war das für ihn Erklärung genug. „Ähm ...“, sagte sie, um Zeit zu gewinnen, denn in keinem Benimmbuch fanden sich Hinweise darauf, wie man sich in einer solchen Lage verhalten sollte. Am Ende entschied sie, dass sie am besten beraten wäre, sich nach dem Ausgang des Streits zu erkundigen und nicht nach den Ursachen. „Dann ist jetzt alles in Ordnung, ja?“
Er nickte übertrieben. „Bald sind Glückwünsche fällig.“
„Oh. Na, das ist aber schön.“ Sie lächelte, nickte, flocht die Finger ineinander, um sich am Herumzappeln zu hindern. Wirklich, das alles war schrecklich heikel. Was sollte man bloß mit einem verletzten Earl anfangen? Der eben aus seinem drei Jahre währenden Exil heimgekehrt war? Und schon vor seiner Flucht einen recht zweifelhaften Ruf genossen hatte.
Ganz zu schweigen von dieser ganzen Küsserei eben.
„Kennen Sie meine Schwester?“, fragte er und wirkte plötzlich sehr müde. „Oh, natürlich kennen Sie sie. Sie haben ja mit ihr musiziert.“
„Ihre Schwester ist Lady Honoria?“ Es erschien ihr klug, sich zu vergewissern.
Er nickte. „Ich bin Winstead.“
„Ja, natürlich. Ich habe gehört, dass Sie zurückerwartet werden.“ Sie lächelte noch einmal, doch sie fühlte sich immer noch nicht wohl. „Lady Honoria ist sehr liebenswürdig und freundlich. Ich freue mich sehr für sie.“
„Sie ist furchtbar unmusikalisch.“
„Sie war die beste Geigenspielerin auf der Bühne“, erwiderte Anne aufrichtig.
Das entlockte ihm ein lautes Lachen. „Als Diplomatin würden Sie sich sehr gut machen, Miss ... “ Er hielt inne, wartete, erklärte dann: „Sie haben mir noch gar nicht gesagt, wie Sie heißen.“ Sie zögerte, weil sie bei dieser Frage stets zögerte, aber dann rief sie sich in Erinnerung, dass er der Earl of Winstead war und somit der Neffe ihrer Dienstherrin. Von ihm hatte sie nichts zu befürchten. Zumindest nicht, solange sie keiner zusammen sah. „Ich bin Miss Wynter“, sagte sie, „die Gouvernante Ihrer Cousinen.“
„Welcher Cousinen? Den Pleinsworths?“
Sie nickte.
Er blickte ihr direkt in die Augen. „Sie armes, armes Ding.“ „Still! Sie sind wirklich reizend!“, protestierte sie. Sie betete ihre drei Schützlinge an. Harriet, Elizabeth und Frances mochten wilder sein als viele andere junge Mädchen, aber sie hatten ein gutes Herz. Und sie bemühten sich immer so.
Er hob die Augenbrauen. „Reizend, von mir aus. Wohlerzogen eher weniger.“
Das war nicht zu leugnen, und Anne konnte ein leises Lächeln nicht unterdrücken. „Ich bin mir sicher, dass sie sehr viel reifer geworden sind, seit Sie sie zum letzten Mal gesehen haben“, erwiderte sie spröde.
Er warf ihr einen zweifelnden Blick zu und fragte dann: „Wie kam es, dass Sie am Pianoforte saßen?“
„Lady Sarah wurde krank.“
„Ah.“ Dieses „Ah“ war äußerst vielsagend. „Überbringen Sie doch bitte meine besten Genesungswünsche.“
Anne war sich ziemlich sicher, dass sich Lady Sarah besser gefühlt hatte, sobald sie von ihrer Mutter von ihrem Auftritt entschuldigt worden war, doch sie nickte nur und sagte, sie würde es nicht vergessen. Obwohl sie nicht die Absicht hatte, die Grüße auszurichten. Niemals würde sie irgendwem erzählen, dass sie dem Earl of Winstead begegnet war.
„Weiß Ihre Familie schon, dass Sie zurück sind?“, fragte sie. Sie betrachtete ihn ein bisschen genauer. Er sah seiner Schwester wirklich sehr ähnlich. Sie fragte sich, ob er dieselben außergewöhnlichen
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