Ein Earl mit Mut und Leidenschaft
Augen hatte - von einem kräftigen Hellblau, beinahe Lavendel. In dem schummrigen Licht konnte man das unmöglich feststellen. Ganz zu schweigen davon, dass das eine Auge rasch zuschwoll. „Neben Lady Honoria, meine ich“, fügte sie hinzu.
„Noch nicht.“ Er schaute zu den offiziellen Räumlichkeiten und verzog das Gesicht. „So sehr ich jeden bewundere, der sich dazu überwinden konnte, zum Konzert zu kommen, wollte ich doch nicht in aller Öffentlichkeit meiner Familie unter die Augen treten.“ Er blickte an sich herab. „Vor allem nicht in diesem Zustand.“
„Natürlich nicht“, sagte sie schnell. Nicht auszudenken, was es für einen Aufruhr auslöste, wenn er jetzt blutig und zerschlagen auf dem Empfang auftauchte.
Leise stöhnend wechselte er die Position auf dem Boden, brummte dann etwas in sich hinein, von dem Anne überzeugt war, dass es nicht für ihre Ohren bestimmt war. „Ich sollte gehen“, platzte sie heraus. „Tut mir schrecklich leid, und ... ähm ... “
Sie befahl sich, sich in Bewegung zu setzen, wirklich. Ihr Verstand flehte sie an, vernünftig zu sein und sich davonzumachen, ehe jemand kam, doch alles, woran sie denken konnte, war - er hatte seine Schwester verteidigt.
Wie konnte sie einen Mann im Stich lassen, der so etwas tat?
„Kommen Sie, ich helfe Ihnen“, sagte sie wider alles bessere Wissen.
Er lächelte schwach. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht.“
Sie ging in die Hocke, um seine Blessuren in Augenschein nehmen zu können. Sie hatte schon öfter Schnitt- und Schürfwunden verarztet, aber etwas Derartiges war ihr noch nicht untergekommen. „Wo tut es denn weh?“, fragte sie. Und räusperte sich. „Abgesehen von den offensichtlichen Stellen.“
„Offensichtlich?“
„Nun ...“ Vorsichtig wies sie auf sein verletztes Auge. „Da kriegen Sie ein blaues Auge. Und dort...“, fügte sie hinzu und deutete auf den linken Unterkiefer und dann die Schulter, die unter seinem zerrissenen, blutverschmierten Hemd zu sehen war, „... und dort.“
„Marcus sieht schlimmer aus“, sagte Lord Winstead wieder.
„Ja“, erwiderte Anne und unterdrückte ein Lächeln. „Das haben Sie bereits erwähnt.“
„Es ist ein wichtiges Detail.“ Er grinste schief, zuckte dann zusammen und legte eine Hand an die Wange.
„Ihre Zähne?“, fragte sie besorgt.
„Die sind anscheinend noch alle da“, murmelte er. Er öffnete den Mund, als wollte er den Klappmechanismus prüfen, und schloss ihn dann stöhnend. „Glaube ich.“
„Kann ich irgendwen holen?“, fragte sie.
Er bedachte sie mit einem überraschten Blick. „Sie möchten gern weiterverbreiten, dass Sie hier mit mir allein waren?“
„Oh. Natürlich nicht. Ich kann nicht mehr klar denken.“
Wieder zeigte er das schiefe Grinsen, bei dem sie innerlich irgendwie ganz unruhig wurde. „Diese Wirkung habe ich auf Frauen.“
Darauf fielen ihr eine ganze Menge Antworten ein, doch sie verzichtete darauf, sie laut zu äußern. „Ich könnte Ihnen auf die Füße helfen“, schlug sie vor.
Er seufzte. „Sie könnten sich auch zu mir setzen und mit mir plaudern.“
Sie starrte ihn an.
Wieder dieses schiefe Lächeln. „Nur so eine Idee“, meinte er.
Eine schlechte Idee, dachte sie umgehend. Liebe Güte, eben hatte sie ihn geküsst. Sie sollte nicht in seiner Nähe sein, gewiss nicht neben ihm auf dem Fußboden, wo es so einfach wäre, sich ihm zuzuwenden, ihr Gesicht dem seinen zuzuneigen ...
„Vielleicht könnte ich Ihnen etwas Wasser bringen“, bot sie an, so hastig, dass sie sich an den Worten beinahe verschluckt hätte. „Haben Sie ein Taschentuch? Sie werden sich wohl das Gesicht säubern wollen, vermute ich.“
Er griff in die Tasche und holte ein zerknittertes Stück Stoff hervor. „Feinstes italienisches Leinen“, scherzte er matt. Er runzelte die Stirn. „War es zumindest mal.“
„Bestimmt ist es genau das Richtige“, sagte sie, nahm es entgegen und faltete es zurecht. Dann tupfte sie ihm damit die Wange ab. „Tut das weh?“
Er schüttelte den Kopf.
„Ich wollte, ich hätte ein wenig Wasser. Das Blut ist schon getrocknet.“ Sie runzelte die Stirn. „Haben Sie etwas Brandy? Vielleicht in einer Taschenflasche?“ So etwas führten Gentlemen oft mit sich. Ihr Vater zum Beispiel. Ohne seine Taschenflasche hatte er nur selten das Haus verlassen.
Doch Lord Winstead sagte: „Ich trinke keinen Alkohol.“ Etwas an seinem Ton verblüffte sie, und sie sah auf. Sein Blick ruhte auf ihr, und sie
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