Ein Earl mit Mut und Leidenschaft
Aber das hier war schlimmer. Sein Magen brannte, die Luft wurde ihm knapp, und am liebsten hätte er sich übergeben.
Furcht kannte er. Das hier ging über Furcht weit hinaus.
Er blickte zu Granby. „Glauben Sie, dass dieser Mann sie entführt hat?“
„Ich weiß nicht. Doch nachdem er weg war, habe ich sie gesehen.“ Granby wandte sich um und schaute nach rechts. Daniel fragte sich, ob der Butler sich die Szene ins Gedächtnis zurückrief. „Sie ist im Salon gewesen“, erzählte Granby dann, „direkt an der Tür. Sie hat alles mit angehört.“
„Sind Sie sich da sicher?“, fragte Daniel.
„Ich habe es an ihrem Blick erkannt“, sagte Granby ruhig. „Sie ist die Frau, die er sucht. Und sie wusste, dass ich es weiß.“ „Was haben Sie zu ihr gesagt?“
„Ich glaube, ich habe eine Bemerkung über das Wetter gemacht. Oder etwas ähnlich Unwichtiges. Und dann habe ich ihr gesagt, dass wir nun weitermachen wollen.“ Granby räusperte sich. „Sie hat wohl verstanden, dass ich nicht die Absicht hatte, sie zu verraten.“
„Ganz bestimmt“, erwiderte Daniel grimmig. „Aber sie hatte vielleicht trotzdem das Gefühl, dass sie gehen müsste.“ Er hatte keine Ahnung, was Granby über den Unfall in Whipple Hill wusste. Vermutlich nahm er wie alle anderen an, dass Ramsgate dahintersteckte. Doch Anne hatte offenbar jemand Bestimmtes in Verdacht. Wer auch immer diesen Anschlag verübt hatte, schien sich nicht darum zu scheren, wenn andere mit unter die Räder kamen. Anne würde die Pleinsworth-Mädchen niemals einem solchen Risiko aussetzen. Oder ...
Oder auch ihn. Er schloss kurz die Augen. Vermutlich dachte sie, sie könne ihn auf diese Weise beschützen. Aber wenn ihr irgendetwas zustieß ...
Er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen.
„Ich werde sie finden“, sagte er zu Granby. „Da können Sie ganz beruhigt sein.“
Anne war schon zuvor einsam gewesen. Eigentlich hatte sie sich den Großteil der letzten acht Jahre einsam gefühlt. Doch als sie sich nun auf dem harten Bett in der Pension zusammenkauerte, den Mantel über dem Nachthemd, um die Kälte abzuhalten, wurde ihr klar, dass ihr noch nie so elend zumute gewesen war.
Nicht so wie jetzt.
Vielleicht hätte sie aufs Land gehen sollen. Dort war es sauberer. Vermutlich nicht so gefährlich. Doch London war anonym. In den überfüllten Straßen konnte sie verschwinden, sich unsichtbar machen.
Aber sie konnte dort auch untergehen.
Für Frauen wie sie gab es keine Arbeit. Damen mit ihrem Akzent arbeiteten nicht als Näherin oder als Aufwärterin. Sie hatte sich bereits umgesehen in ihrem neuen Viertel, einer halbwegs ehrbaren Gegend, die irgendwo zwischen bürgerlichen Ladengeschäften und verzweifelten Elendsquartieren lag. Sie hatte sich überall vorgestellt, wo ein Schild mit der Aufschrift „Aushilfe gesucht“ im Fenster hing, und auch dort, wo kein Schild hing. Man hatte ihr gesagt, dass sie nicht lang durchhalten würde, dass ihre Hände zu zart seien, ihre Zähne zu weiß. Mehr als ein Mann hatte sie lüstern angegrinst und ihr Arbeit von einer ganz anderen Sorte angeboten.
Ohne Empfehlungsschreiben würde sie keine Stellung als Gouvernante oder Gesellschafterin bekommen, und die beiden Zeugnisse, über die sie verfügte, waren auf Anne Wynter ausgestellt. Und Anne Wynter konnte sie nicht bleiben.
Sie zog ihre Beine noch weiter an, bettete das Gesicht auf die Knie und schloss die Augen. Sie wollte dieses Zimmer nicht sehen, wollte nicht sehen, wie dürftig ihre Habseligkeiten selbst in einem so kleinen Raum wirkten. Sie wollte die nasskalte Nacht nicht sehen, und vor allem wollte sie sich selbst nicht sehen.
Wieder einmal hatte sie keinen Namen. Und das tat weh. Es schmerzte wie eine scharfe, schartige Klinge in ihrem Herzen. Es war ein schreckliches Gefühl, ein großes Grauen, das sie jeden Morgen aufs Neue befiel, und es kostete sie große Überwindung, die Beine aus dem Bett zu schwingen und die Füße auf den Boden zu stellen.
Es war nicht wie damals, als ihre Familie sie hinausgeworfen hatte. Damals hatte sie wenigstens gewusst, wohin sie gehen würde. Sie hatte einen Plan gehabt. Zwar war er für sie gemacht worden, aber sie hatte gewusst, was sie zu tun hatte und wann sie es tun sollte. Nun waren ihr nichts als zwei Kleider, einen Mantel und elf Pfund geblieben, und ihre einzige Perspektive war die Prostitution.
Und das konnte sie nicht tun. Lieber Gott, dazu war sie um keinen Preis bereit. Sie hatte sich einmal zu
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