Ein Earl mit Mut und Leidenschaft
Boden, und sie rannte schneller, als jemals in ihrem Leben zuvor. Sie huschte um Ecken, rempelte sich durch die Menschenmengen, ohne sich dafür zu entschuldigen. Sie rannte, bis ihr die Lungen brannten und das Nachthemd am Körper klebte, aber am Ende war sie Georges Durchtriebenheit nicht gewachsen.
„Haltet sie! Bitte! Meine Frau!“
Jemand hielt sie fest, wahrscheinlich weil sich seine Worte so verzweifelt angehört hatten, als wäre er jedem furchtbar dankbar, der ihm zu Hilfe eilte. Als er sie erreicht hatte, sagte er zu dem Mann, der sie wie ein Schraubstock umklammerte: „Es geht ihr nicht gut.“
„Ich bin nicht Ihre Frau!“, schrie Anne und wehrte sich strampelnd gegen den Griff ihres Häschers. Sie wand und drehte sich, schlug mit der Hüfte gegen sein Bein, doch der Mann ließ nicht von ihr ab. „Ich bin gar nicht seine Frau“, sagte sie zu ihm und versuchte dabei normal und vernünftig zu klingen. „Er ist verrückt. Er ist schon seit Jahren hinter mir her. Ich bin nicht seine Frau, wirklich nicht.“
„Komm schon, Annelise“, sagte George in beruhigendem Ton. „Du weißt genau, dass das nicht stimmt.“
„Nein!“, heulte sie auf. „Ich bin nicht seine Frau! Er will mich umbringen!“
Allmählich begann der Mann, der sie für George festgehalten hatte, unsicher zu werden. „Sie sagt, sie ist nicht Ihre Frau“, meinte er misstrauisch.
„Ich weiß“, erwiderte George und seufzte. „So ist sie schon seit einigen Jahren. Wir hatten ein Kind ...“
„Was?“ Anne starrte ihn entsetzt an.
„Eine Totgeburt“, fuhr George fort, ohne auf Annes Einwand zu reagieren. „Sie ist nie drüber hinweggekommen.“
„Er lügt!“, schrie Anne.
Doch George seufzte nur heuchlerisch, und seine Augen füllten sich mit Tränen. „Ich habe mich damit abfinden müssen, dass sie nie wieder die Frau sein wird, die ich einmal geheiratet habe.“ Der Mann blickte von Georges traurigem, edlem Gesicht zu Annes wutverzerrter Miene und entschied offenbar, dass George von den beiden wohl eher derjenige sei, der noch alle Sinne beisammen hatte, und drückte sie ihm in die Arme. „Alles Gute“, sagte er.
George dankte dem Mann überschwänglich und nahm dann auch noch sein Taschentuch an, um Anne damit die Hände zu fesseln. Danach zog er sie wütend an sich, und sie stolperte gegen ihn, erschauerte vor Ekel, als sich ihre Körper berührten. „Oh, Annie“, sagte er, „wie schön, dich wiederzusehen.“
„Sie haben den Riemen durchtrennt“, stellte sie leise fest. „Allerdings“, erwiderte er mit stolzem Lächeln. Dann runzelte er die Stirn. „Ich hatte gehofft, du würdest dich dabei weitaus schlimmer verletzen.“
„Sie hätten Lord Winstead umbringen können!“
George zuckte nur mit den Achseln, und in diesem Augenblick bestätigten sich Annes dunkelste Ahnungen. Er war geisteskrank. Er war vollkommen wahnsinnig, irre. Eine andere Erklärung gab es nicht. Kein normaler Mensch würde riskieren, ein Mitglied des Hochadels zu töten, nur um sie zu kriegen.
„Und der Überfall?“, fragte sie. „Von dem wir zuerst dachten, es wären nur einfache Straßenräuber gewesen?“
George sah sie an, als spräche sie in fremden Zungen. „Wovon redest du?“
„Der Überfall auf Lord Winstead!“, brüllte sie beinahe. „Warum sollten Sie so etwas tun?“
George straffte die Schultern, und seine Oberlippe kräuselte sich vor Verachtung. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, sagte er hochnäsig, „aber dein kostbarer Lord Winstead hat seine eigenen Feinde. Oder kennst du seine schäbige Geschichte gar nicht? “ „Sie sind es nicht wert, seinen Namen in den Mund zu nehmen“, rief sie.
Doch er lachte nur und trumpfte dann auf: „Weißt du eigentlich, wie lang ich auf diesen Augenblick gewartet habe?“
So lange, wie sie als Ausgestoßene gelebt hatte.
„Na?“, knurrte er, packte das zusammengeknotete Taschentuch und schüttelte sie.
Sie spuckte ihm ins Gesicht.
George lief vor Zorn fleckig rot an, so rot, dass seine blonden Augenbrauen vor diesem Hintergrund förmlich leuchteten. „Das war ein Fehler“, zischte er und zerrte sie grob durch die dunkle Gasse. „Wie praktisch, dass du dir ein derart heruntergekommenes Viertel ausgesucht hast“, kicherte er. „Niemand wird hinschauen, wenn ich ...“
Anne begann zu schreien.
Doch niemand beachtete sie, und außerdem währte der Lärm nur kurz. George boxte sie in den Magen, und sie sank gegen eine Mauer und rang nach
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