Ein Earl mit Mut und Leidenschaft
Stellung, die sie je gehabt hatte. Weder saß sie mit einer alternden Dame auf einer Insel fest, wo ein langweiliger Tag den nächsten ablöste. Noch musste sie nachts ihre Tür verriegeln, weil ein grober alter Mann anscheinend dachte, er solle sie unterrichten, während seine Kinder schliefen. Es gefiel ihr bei den Pleinsworths. So zu Hause hatte sie sich nicht mehr gefühlt, seit sie ... seit sie ...
Seit sie ihr Zuhause verlassen hatte.
Sie seufzte tief und wischte sich dann mit dem Handrücken die Tränen ab. Gerade als sie in die Eingangshalle treten und die Treppe hinaufgehen wollte, klopfte es an die Tür. Vermutlich war es Daniel, er hatte wohl etwas vergessen.
Sie lief in den Salon zurück und zog die Tür fast hinter sich zu. Eigentlich hätte sie sie ganz schließen sollen, das war ihr klar, aber vielleicht war dies das letzte Mal, dass sie ihn zu Gesicht bekam. Durch den Spalt beobachtete sie, wie der Butler zur Tür ging. Doch als Granby die Tür öffnete, sah sie dort nicht Daniel, sondern einen ihr völlig unbekannten Mann.
Er wirkte ziemlich gewöhnlich, und seine Kleider deuteten darauf hin, dass er für seinen Lebensunterhalt arbeiten musste. Nicht als Arbeiter, dazu war er zu ordentlich und sauber gekleidet. Aber er hatte etwas Raues an sich, und als er sprach, hörte man an seinem Akzent, dass er aus dem Londoner Eastend stammte.
„Der Lieferanteneingang ist hinten“, sagte Granby sofort.
„Ich bin nicht hier, um was abzuliefern“, sagte der Mann und nickte. Sein Akzent war ungehobelt, doch seine Manieren waren höflich, daher schlug ihm der Butler die Tür nicht vor der Nase zu.
„Was möchten Sie dann?“
„Ich suche nach einer Frau, die hier vielleicht wohnt. Miss Annelise Shawcross.“
Anne hielt die Luft an.
„Hier wohnt niemand dieses Namens“, erwiderte Granby knapp. „Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen ...“
„Vielleicht nennt sie sich auch anders“, unterbrach ihn der Mann. „Ich bin mir nicht sicher, welchen Namen sie benutzt, aber sie hat dunkles Haar und blaue Augen, und sie soll sehr schön sein.“ Er zuckte mit den Achseln. „Selber hab ich sie nie gesehen. Sie könnte als Dienstbotin angestellt sein. Aber sie ist von vornehmer Herkunft, da gibt es kein Vertun.“
Anne spannte die Muskeln an, sie war bereit zur Flucht. Nach der Beschreibung musste Granby sie einfach erkennen.
Doch der Butler sagte nur: „Tut mir leid, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Hier wohnt niemand, auf den Ihre Beschreibung zutrifft. Guten Tag, Sir.“
Die Miene des Mannes nahm einen entschlossenen Zug an, und er stellte einen Fuß in die Tür, ehe Granby sie schließen konnte. „Wenn Sie sich anders besinnen, Sir“, sagte er und streckte dem Butler eine Hand entgegen, „hier ist meine Visitenkarte.“
Granby hielt die Arme steif an der Seite. „Das ist kaum etwas, was man sich anders überlegen könnte.“
„Wenn Sie das sagen.“ Der Mann steckte sich die Karte wieder in die Brusttasche, wartete einen Augenblick und ging dann.
Anne legte eine Hand auf ihr Herz und versuchte in aller Stille tief durchzuatmen. Wenn sie je Zweifel gehegt hatte, dass George Chervil hinter dem Anschlag bei Whipple Hill steckte, so waren sie jetzt zerstreut. Und wenn er bereit war, um seiner Rache willen das Leben des Earl of Winstead zu riskieren, würde er auch nicht weiter darüber nachdenken, ob einer der Pleinsworth-Töchter etwas passieren könnte.
Anne hatte ihr eigenes Leben ruiniert, als sie sich mit sechzehn von ihm hatte verführen lassen, aber sie würde bestimmt nicht noch mal zulassen, dass er auch anderen Schaden zufügte. Sie würde verschwinden müssen. Sofort. George wusste, wo sie war, und er wusste, wer sie war.
Aber sie konnte nicht aus dem Salon gehen, ehe Granby die Halle verlassen hatte, doch der stand einfach nur da wie erstarrt, eine Hand auf dem Türknopf. Und dann drehte er sich um, und dann ... Anne hätte daran denken müssen, dass seinem scharfen Blick so schnell nichts entging. Daniel wäre nicht aufgefallen, dass die Tür zum Salon einen Spaltbreit offen stand, doch Granby? Es war, als würde man einen Stier mit einem roten Tuch reizen. Die Tür war entweder ganz geöffnet oder eben geschlossen. Einen Spaltbreit ließ man sie nie offen, sodass ein zollbreiter Streifen Licht zu sehen war.
Und natürlich entdeckte er sie.
Anne gab sich keine Mühe, sich zu verstecken. Das war sie ihm schuldig, nach allem, was er eben für sie getan hatte. Sie trat hinaus
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