Ein endloser Albtraum (German Edition)
dass ich erschrak. Ich versuchte sein Gesicht zu sehen, es war aber zu dunkel, um seine Züge zu erkennen.
»So gut kannst du dich daran erinnern?«
»Du hast mit Corrie unter der Fahne gesessen. In der einen Hand hattest du ein Glas und mit der anderen hast du dir Luft zugefächelt. Du warst ganz rot im Gesicht und hast gelacht. Es war ziemlich heiß und du hattest gerade mit Steve getanzt. Ich wollte dich vom ersten Moment an um einen Tanz bitten – das war auch der einzige Grund, warum ich hingegangen bin –, aber ich brachte nicht den Mut auf. Auf einmal merkte ich, wie ich auf dich zuging, ohne mich bewusst dafür entschieden zu haben. Wie ferngesteuert, verstehst du. Ich bat dich um den Tanz und du sahst mich einen Augenblick lang an. Ich kam mir vor wie ein Idiot und fragte mich, mit welcher taktvollen Ausrede du dich wohl aus der Affäre ziehen würdest. Doch dann hast du Corrie wortlos dein Glas in die Hand gedrückt und bist aufgestanden und hast mit mir getanzt. Ich hatte auf eine lange langsame Nummer gehofft, aber dann kam Convicted of Love. Nicht gerade romantisch. Als der Song zu Ende war, kam Corrie daher und verschwand mit dir auf der Toilette und das war's.«
Meine Hand war ganz feucht und verschwitzt geworden, Lees Hand aber auch. Schwer zu sagen, wessen Hand dafür verantwortlich war. Was er mir da sagte, schien unglaublich. Hatte Lee wirklich schon so lange auf diese Weise für mich empfunden? Unglaublich, wunderbar.
»Lee, du bist so ... Warum hast du mir das nicht schon längst erzählt?«
»Weiß nicht«, murmelte er und versperrte seine Worte wieder so rasch in seinem Inneren, wie er sie nach draußen gelassen hatte.
»Du warst so ... ich weiß nie, ob ich dir wirklich wichtig bin oder nicht.«
»O doch, das bist du, Ellie. Es ist nur so, dass mir andere Dinge auch wichtig sind; vor allem meine Familie. Wenn ich an sie denke, bin ich danach immer total erschöpft. Für anderes bleibt dann kein Platz mehr.«
»Ich kenne das. Und wie. Aber wir können unser Leben nicht auf Eis legen, bis unsere Familien wieder frei sind. Wir müssen weiterleben, denken und fühlen ... und einfach weitergehen. Verstehst du, was ich sagen will?«
»Ich verstehe es sehr gut. Nur manchmal ist es schwer.«
In diesem Moment kamen wir an der Christuskirche am Stadtrand von Wirrawee vorbei. Homer und Robyn, die vor uns gegangen waren, waren stehen geblieben; gemeinsam warteten wir nun auf Fi und Chris, die ein wenig zurückgefallen waren. Von nun an würde es keine Gespräche mehr über unsere Gefühle und Zuneigung füreinander geben. Ich musste meine Verblüffung über die Stärke und Tiefe von Lees Gefühlen einstweilen wegpacken und mit jeder Faser konzentriert und wachsam sein. Wir befanden uns in der Kriegszone und waren im Begriff, mitten in ihr Herz vorzudringen. Allein in dem kleinen Wirrawee mussten mindestens hundert Soldaten stationiert sein, von denen uns jeder einzelne liebend gern getötet hätte – noch dazu nach allem, was wir ihren Kameraden angetan hatten.
Wir setzten unseren Weg zwar immer noch paarweise fort, jetzt allerdings auf beide Straßenseiten verteilt. Ich war auf der rechten, Lee auf der linken Seite. Nachdem die Umrisse von Homer und Robyn verschwunden waren, warteten wir noch sechzig Sekunden, dann folgten wir ihnen. Wir befanden uns auf der Warrigle Road und kamen am Haus der Mathers vorbei, das auf dem Hügelkamm direkt über uns lag. Ich fragte mich, wie es Robyn gehen musste, als sie daran vorbeikam. Wie besprochen bogen wir in die Honey Street ein und hielten uns im Schatten der Häuser. In diesem Teil von Wirrawee brannte nach wie vor kein Licht und es war so finster, dass ich von Lee nur ab und zu die Umrisse sehen konnte. Von den anderen vier sah ich gar nichts und konnte nur hoffen, dass wir alle gleich schnell unterwegs waren. Wenigstens machte die Honey Street bis auf ein Autowrack, das an einem Telegrafenmast klebte, einen halbwegs normalen Eindruck. Weil der Wagen dunkelblau und daher kaum sichtbar war, wäre ich beinahe in ihn hineingerannt. Wie immer in solchen Situationen begann sich meine Fantasie zu verselbstständigen. Ich malte mir aus, was ich einem Polizisten sagen würde, wenn ich einen Zusammenstoß mit einem geparkten Auto hätte ... »Das war so, Sergeant: Ich war mit vier Stundenkilometern auf der Honey Street unterwegs, als auf einmal dieser Wagen vor mir auftauchte. Ich bin auf die Bremse gestiegen und verriss nach rechts, aber dann streifte ich
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