Ein Engel an Güte (German Edition)
glücklicherweise, dass dieses Gefühl des Abscheus sich bei ihr jemals abschwächte, und wenn sie im Lauf der Zeit auch lernte, mit den Sitten und Gewohnheiten der anderen zurechtzukommen, bewahrte sie sich in ihrem Innern doch umso reiner und tatenfreudiger, als sie ahnungsvoll vor Nichtigkeit und Bequemlichkeit floh. Diesem tief sitzenden Widerwillen gegen alles Unreine, so sehr er auch durch ihre außerordentliche Herzensgüte gemildert, ja im täglichen Umgang kaum merklich schien, verdankte sie die stumme Abneigung der Mitschülerinnen und die nur schlecht verhohlene Missgunst der Lehrerinnen. Hinzu kam noch der Verdacht, hinter solch zimperlicher Tugendhaftigkeit könne sich eine gerissene Spionin des Formiani verbergen, und wenn dieser Verdacht einerseits der Grund für zahllose Vergünstigungen Morosina gegenüber war, brachte er auf der anderen Seite doch so viel ängstliches Misstrauen in die Züge der Klosterschwestern, dass sie das in ihrer reinen und offenherzigen Seele mehr betrübte als alle anderen Misshelligkeiten. Freilich war sie zu arglos, um jede Unhöflichkeit, die man ihr gegenüber beging, zu bemerken, und erklärte sie sich bald durch Zufall, bald durch Unachtsamkeit; ihre Herzensgüte hinderte sie daran, auf dem Grund dieser kleinen Zwischenfälle die böse Absicht zu suchen, der sie entsprangen. Aufrecht ging sie ihren Weg, heiter und freundlich, im Reinen mit sich und daher mit allem Übrigen; eifrig tat sie ihre Pflicht, fügte sich den Weisungen der Oberen und den Wünschen der Mitschülerinnen, und meist bemerkte sie den Groll nicht, der ihr von allen Seiten entgegengebracht wurde, oder tat doch bisweilen so.
Dazumal pflegten die Erziehungsinstitute für gewöhnlich mehr oder weniger unverhohlen Gemeinschaften im Müßiggang zu sein, frivole Lehrstätten des großen gesellschaftlichen Müßiggangs, an dem die edlen Patrizier und edlen Damen, sobald sie der Aufsicht entwachsen waren, bis zu ihrem Tod mitwirkten. Gelernt und geübt wurde wohl auch etwas, aber nur so zum Schein, und zwischen Schülern und Lehrern bestand die stillschweigende Übereinkunft, dass man einträchtig in seliger Unwissenheit leben wolle. Und auch bei den Seraphinerinnen liefen die Dinge nach derselben Ordnung oder Unordnung wie anderswo. Morosina war frei von den Lastern und Begehrlichkeiten, die zum Müßiggang verleiten, sie nahm den Unterricht daher ernst; wenn so viel Naivität ihre Lehrerinnen zunächst überraschte, fügte die Beharrlichkeit des Mädchens der Überraschung dann noch die Schwindelei hinzu. Da sie recht bald bemerkten, dass das Mädchen mehr wusste als sie selbst, versuchten sie, sich dieses Ärgernis vom Hals zu schaffen, indem sie sie lauthals nach allen Seiten als den Gipfel der Gelehrsamkeit priesen. Auf diese Weise meinten die guten Schwestern, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, wie man so schön sagt, denn gewiss musste dem Formiani der Ruhm seines Schützlings willkommen sein, und sie konnten sich unter diesem Vorwand aufs Bequemste der beschwerlichen Erziehungsaufgabe entledigen. So blieb das Mädchen auf sein eigenes Urteilsvermögen angewiesen, das es unbeirrbar und auf geraderen Pfaden ungleich rascher voranbrachte, als diese Tratschweiber von Lehrerinnen es je vermocht hätten.
Einzig der Musiklehrer, ein entsetzlicher Klimperer auf dem Cembalo, der dabei aber, wie es oft geschieht, seine Kunst wie ein Besessener liebte, war selig, nach so vielen anderen endlich eine Schülerin zu finden, die bei seinen faden Sonatinen oder seinen endlosen Ausführungen über den Kontrapunkt nicht umkam vor Langeweile. Das war dem guten Manne ein Trost, es stärkte sein Selbstvertrauen, das schon angegriffen war, und so schüttete er über diese Einzige die ganze Fülle seiner wunderlichen Wissenschaft aus. Aber wenn Morosina auch recht viele Stunden mit diesem Verrückten vertat, blieben diese doch nicht ohne Früchte. Zunächst erwarb sie sich dadurch eine für damalige Zeiten ausgesprochen seltene Fingerfertigkeit; außerdem kam es des Öfteren vor, da ihr Lehrer in seiner Jugend ein Schüler des Porpora 32 gewesen war und ein ausgezeichnetes Gedächtnis besaß, dass er Lektionen wiederholte, die er vor vierzig Jahren bei dem berühmten Komponisten gehört hatte. Freilich färbte er sie auf seine Art mit besonderen Betonungen, Posen und Gesten; aber das Wesentliche blieb doch erhalten, immer waren es die schlichten, klaren, ewigen Prinzipien, die Homer genauso wie Michelangelo und
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