Ein Engel an Güte (German Edition)
wenn sie müde war, mit ihr spazieren zu gehen und ihr sogar ein wenig vom Abc und vom Katechismus beizubringen. So war dieser treffliche Gerichtsschreiber, der in seinem Richtersessel so majestätisch wirkte, aus freien Stücken Haushofmeister, Koch, Diener, Dienstmagd, Lehrer und Küchenjunge geworden, und wäre Morosina nicht fünf, sondern bloß ein Jahr alt gewesen, so hätte er, glaube ich, auch noch versucht, ein wenig Amme bei ihr zu spielen.
Unterdessen wuchs das Mädchen heran, niedlich und liebenswürdig, und die zwei bei Kindern von damals vorherrschenden Laster, Affektiertheit und Klatschsucht, hatten ihrer natürlichen Schlichtheit nichts anhaben können. Der angeborene leichte Hang zur Boshaftigkeit war gemildert durch die Güte, die Chirichillo sie in jeder Form lehrte, und hatte sich in gänzlich unschuldige Fröhlichkeit verwandelt; und auch alles Übrige war offenbar so dazu angetan, die Lehren und das Vorbild des Meisters Früchte tragen zu lassen, dass Leute von außerhalb sich wunderten, wie dieses Engelchen mit so viel Klugheit und Anmut heranwachsen mochte, in der Gesellschaft von zwei Alten, wovon der eine ein ausgemachter Flegel war und der andere in dem Ruf stand, ein rechter Narr zu sein.
Chirichillo indes wunderte sich immer mehr über die Liebe zu dem kleinen Geschöpf, die ihn erfasst hatte; und sooft er darüber nachsann, wunderte er sich von Neuem. Durch fortgesetztes Nachdenken gelangte er zu dem Schluss, dass eine so große und lebhafte Zuneigung irgendeine geheimnisvolle Ursache haben müsse, und er nahm sich vor, sobald der Verstand des Mädchens so weit entwickelt wäre, dass er derlei Seelenregungen gewachsen wäre, sie nach dieser Geschichte mit den früheren Leben auszuhorchen und herauszufinden, ob sie sich nicht an etwas erinnere und ob er nicht in anderer Gestalt und zu anderen Zeiten eine große Wohltat von ihr empfangen habe, die Gott befohlen habe, ihr nun in diesem Leben mit jeder Art von Fürsorge und Dienstbarkeit zu entgelten. Daher wartete er geduldig, bis sie ihr siebtes Lebensjahr erreichte, ein Alter, von dem man annimmt, dass in ihm die Vernunft ihre Fähigkeiten ganz entfaltet hat. Bis zu diesem Augenblick hatte er sich fest vorgenommen, kein Wort darüber zu verlieren.
Der lang ersehnte Tag brach an, der arme Mann konnte sich nicht zurückhalten und weckte sie in aller Frühe, drückte ihr einen dicken Kuss auf die Stirn und fragte sie, ob sie sich nicht gelegentlich daran erinnere, ihn früher einmal aus einer großen Gefahr errettet zu haben. Die Ärmste schien eben erst aus einem sehr beklemmenden Traum erwacht, denn kaum hatte Chirichillo diese Worte gesagt, krümmte sie sich ganz zusammen, klammerte sich an seine Kleider, drückte sich fest an ihn und fing an zu schreien; der Gute fragte sie ängstlich, was sie habe, da rieb sich die Kleine die Augen und sah ihn traumverloren an, schließlich hängte sie sich getröstet mit einem Kuss an seinen Hals.
« Was hast du nur, mein Kind?», fragte Chirichillo.
« Es ist... », entgegnete Morosina,«du, siehst du, du fielst ganz tief hinunter in einen schwarzen Abgrund voller Flammen und Gebrüll, und ich lief hinter dir her, um dich an den Kleidern zu fassen, und du fielst immer tiefer hinunter; aber ich flog aus Leibeskräften und es gelang mir, dich zu packen, als du schon mit den Füßen an diese Glut rührtest; ich habe dich gerettet, und gemeinsam sind wir ans Licht der Sonne zurückgekehrt, um Gott und dem heiligen Antonius zu danken!»
« Mein Gott, welches Wunder!», rief Chirichillo aus.«Und sag mir, sonst erinnerst du dich an nichts?»
« Nein, wirklich ... sonst nichts, aber ich zittre noch immer am ganzen Leib.»
« Aber denk nach... geh in dich... schau ganz genau hin ...»
« Ich erinnere mich nur an das, was ich dir eben gesagt habe, mein Alter!», antwortete das Kind. Und hier müssen wir einflechten, dass die Anrede« Alter»ein typisch venezianischer Kosename ist und dass Morosina ihren Ziehvater immer so nannte.
« Sonst nichts... gar nichts?», drang Chirichillo weiter in das Mädchen, den Blick unverwandt auf sie gerichtet.
« Nein, nichts, Alter, wirklich nichts!», rief die Kleine, indem sie vergnügt aus dem Bett hüpfte.« Seien wir fröhlich», fuhr sie fort und fiel ihm um den Hals,«denn wenn ich eine Minute später gekommen wäre, so hätten wir beide, du durch den Sturz, ich, weil ich dir hinterdreinlief, ordentlich im Feuer geschmort.»
« Ja, ja, küss mich, mein
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