Ein Engel an Güte (German Edition)
Engelchen!», rief Chirichillo schluchzend.«Dir verdanke ich mein ewiges Heil, denn heute habe ich das große Geheimnis entdeckt. Deine Seele ist die jenes guten Priesters, der mich durch seine Tränen und Gebete vor einem unbußfertigen Tod errettet hat. Und nur seinetwegen oder deinetwegen, Morosina, was ja nun ein und dasselbe ist, bin ich nicht vom Galgen in die Flammen der Hölle hinabgestürzt! Es stimmt, an anderes erinnerst du dich nicht, aber der Herr hat erlaubt, dass du dich so undeutlich an dieses eine erinnerst, damit die spontane Liebe, die mich trieb, dich wie meine Tochter anzusehen, durch Dankbarkeit untermauert werde.»
Unter Weinen und Lächeln küsste der Alte das Gesichtchen und die Hände der Kleinen, die aufrecht mitten im Zimmer stand, ein kurzes Hemdchen bis zu den Knien und die Arme vor der Brust verschränkt, und so glich sie wirklich einem Engelchen, das gerade vom Himmel herabgestiegen ist, bereit, gleich wieder dort hinaufzufliegen. Zum ersten Mal vernahm Morosina bei dieser Gelegenheit etwas von Chirichillos eigenartigem Glauben, sie gab freilich nicht sonderlich darauf Acht, nur schien ihr, dass er allzu viel Aufhebens von einer geträumten Gefahr mache. Wenn der Alte später wieder auf dieses wirre Zeug von dem Priester und vom Galgen zurückkam, erinnerte sie sich, dass sie ihm eines Morgens diesen Traum erzählt hatte. Doch so viel Mühe sie sich auch gab, ihn davon zu überzeugen, dass alles nur ein nächtliches Phantasiegespinst gewesen war, Chirichillo wollte keine Vernunft annehmen und beschwor sie, von anderem zu reden, um nur ja einen Glauben nicht zu erschüttern, von dem sein ganzes Glück abhing.
In dieser Weise war das Leben des Mädchens bis zu seinem elften Lebensjahr sanft und sehr einförmig dahingeflossen, als Chirichillo sich besann, dass ein Mädchen außer in Lesen und Schreiben ja noch in vielen anderen Dingen unterwiesen werden muss, die er ihr nicht beibringen konnte. Schon bald wurde er sich mit einer tüchtigen Lehrerin einig, und da es sich bei der Schülerin um die Tochter des Podestà handelte, fand sie sich bereit, zum Handarbeitsunterricht ins Haus zu kommen, wie der Gerichtsschreiber es verlangte. Trotz aller Sorglosigkeit hatte Valiner diesen Mangel bei Morosina schon viel früher bemerkt als Chirichillo, aber er kümmerte sich darum genauso wenig wie um alle andern Dinge dieser Welt. Nur wenn er sah, wie das Mädchen sich rittlings auf die Knie setzte oder begierig in den Akten des Gerichtsschreibers las oder an einem Ende des Tisches vor sich hin kritzelte, mochte er wohl ausrufen:« Ach, wenn doch die selige Chiaretta noch auf der Welt wäre, dann würdest du ganz andere Dinge können, mein Schätzchen! Deine Mutter, siehst du, das war eine Frau...! Bete für sie, hörst du, Kleine; bete, denn du bist gut, und der Herr wird deine Vaterunser eher erhören als meine ...»Damit sprach er eine Wahrheit aus, denn Vaterunser stimmte er nur ein einziges in der Woche an, nämlich sonntags in der Messe, und er brach auch immer in der Mitte ab, weil er den zweiten Teil vergessen hatte, und fing dann beim wohlvertrauten Ave-Maria wieder an. Im Übrigen führte er sein gewohntes Leben weiter wie bisher, nachdem er zwischen zwei und drei aus dem Bett gekrochen war, legte er sich um zehn Uhr wieder hinein und fand den Tag deshalb keineswegs zu kurz. Es stimmt schon, in den ersten Jahren seiner beamteten Pilgerschaft hatte es ihn einige Mühe gekostet, so bald am Abend die Augen zu schließen, weil er wie alle Venezianer gewohnt war, erst im Morgengrauen schlafen zu gehen, doch mit der Zeit hatte er diese Unart ablegen können, sodass er in Monfalcone mehrmals noch in Kleidern auf dem Bett einschlief. Diese glückliche Wendung zum Besseren wurde, das muss gesagt sein, sehr befördert durch den köstlichen Wein, der auf jenen Hügeln gedeiht und der hymnischen Lobpreisungen eines Redi 31 würdig ist. So wurde nach und nach die alte Gewohnheit, bei Sonnenaufgang einzuschlafen, ausgetrieben durch die ebenso hartnäckige, bei Anbruch der Nacht den Kopf auf den Tisch zu legen; wortgetreue und höchst passende Auslegung des Sprichworts: den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.
Zum ersten Mal sah Morosina Celio, ihren kleinen Freund aus Kindertagen, in Castelfranco wieder, dorthin kam er mehrmals aus Padua zu Besuch, wo er dem Studium der Rechte oblag. Er war damals etwa achtzehn Jahre alt, groß und von schlankem Wuchs, mit strahlenden braunen Augen; ein schwarzes
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