Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
meiner Vergangenheit, als Schulblusen aus Rayon oder Baumwolle waren und nur die wenigen PrivilegiertenTussahseide trugen, cremefarben, mit groben, bei Berührung elektrisch reagierenden Fäden inmitten der raschelnden Weichheit. Ich erinnerte mich an Myrtles beharrliche Fantasievorstellung, sie habe ein Kleid aus Tussahseide in ihrem Schrank hängen, an ihre prahlerische Lüge: «Ich habe ein Kleid aus Tussahseide.»
Jener Sommer wurde beherrscht von der Sonne, von der Liebe, die es nach allen Seiten hin zu verschenken gab, einem Gefühl, mit dem es die geschriebenen Wörter der Vergangenheit nicht aufnehmen konnten: die Qual, die Seligkeit, die noch unschuldige Sehnsucht, die schmerzliche Wonne und der wonnevolle Schmerz (wir hatten uns eingehend mit dem «Lust-Schmerz-Prinzip» beschäftigt). In Erinnerung geblieben sind mir die Geschenke von Fluss und Landschaft, Matagouri und Schneegras und ein makellos blauer Himmel, aber auch der Albtraum des glühend heißen Wellblechs, das uns mit seinem Feuer umschloss.
Ich fuhr wieder nach Hause, und langsam kühlte meine Sommerliebe ab. Ich verstand nun, warum die Verwandten ihrem Entzücken über «Up Central» Ausdruck verliehen hatten und warum ich mir als kleines Kind «Up Central» als eine Leiter in den Himmel vorgestellt hatte.
In der Eden Street 56 war der verdorrte Rasen vor dem Haus mit trockenen Knäuelgrassamen und welkem Spitzwegerich bedeckt. Es gab auch Mutterkorn, das man für die Kriegsanstrengungen sammeln musste; und auf der Stierweide Kletterrosensträucher voller fast reifer Hagebutten.
Isabel und ich lagen auf dem Rasen, während ich, die große Schwester, ihr erklärte, wie es auf der Pädagogischen Hochschule zuging, und Isabel mit ihrer üblichen Skepsis zuhörte. Sie bereitete sich gerade auf ihr erstes Jahr an derHochschule vor. Wir würden beide bei Tante Isy in der Garden Terrace Nummer 4 wohnen. Bei der Vorstellung, mit Isabel «zurande kommen» zu müssen, überfiel mich Panik.
5
Isabel und die Entwicklung der Großstadt
Zwar waren Isabel und ich gute Freunde, doch unser Verhalten, unsere Ansichten, Erfahrungen und Bestrebungen hätten kaum unterschiedlicher sein können. Es war Isabel, die June und mich in den «Dingen des Lebens» unterwies, das heißt, wie man sich einen Freund angelte, was man mit ihm dann machte und wie man ihn wieder loswurde, wenn er seine Schuldigkeit getan hatte; wie man einen schönen Teint und eine gute Figur erwarb, damit man überhaupt zu einem solchen Freund kam; und wie man über die Autorität und ihre Engstirnigkeit den Sieg davontrug. Dabei ging Isabel uns mit gutem Beispiel voran: Sie verfügte über viel Erfahrung im Umgang mit Menschen; sie hatte immer einen Freund; sie beschrieb ausführlich, was sie miteinander machten, und obwohl sie noch nicht «alles» gemacht hatte, schilderte sie in lebhaften Farben, was passiert war, in einer Mischung aus Dichtung und Wahrheit, begleitet vom populärsten Schlager jener Zeit, der von Fats Waller mit heiserer Stimme gesungen wurde:
Please don’t put your lips so close to my cheek,
Don’t smile or I’ll be lost beyond recall
…
all or nothing at all
…
Isabel war phantasievoll und intelligent; sie war Klassenbeste in Englisch und Französisch und hatte den Vortragswettbewerbund einen Schild in Leibeserziehung gewonnen; einmal war sie auch auf einen der vorderen Plätze im Weitspringen gekommen. Selbst in unserer wettbewerbsorientierten Welt bewerteten wir diese Preise nicht allzu hoch; allerdings verliehen sie einem Prestige, und oft bekam man auch noch ein schönes Buch, eine Medaille oder einen Scheck dazu.
Ich beneidete Isabel um ihre Begabung für die schriftliche Darstellung, um die Fülle von Details, die sie zur Gänze aus ihrer Fantasie bezog; es schien mir, als habe sie die ganze Welt bereist und in vielen Zeiten und an vielen Orten gelebt; sie
wusste
es einfach. Nachdem ihr Ehrgeiz, Ärztin zu werden, durch ihre Ungeduld beim Lernen und die Kosten für die Ausbildung gebremst worden war, entschied sie sich für den Lehrberuf und übersprang sogar die Abschlussklasse.
Ich, gehemmt, zurückhaltend, gehorsam, mich für verantwortungsbewusst und erwachsen haltend, war schon über Isabels allerersten Schritt bestürzt – dass sie
direkt aus der sechsten
in die Pädagogische Hochschule übertrat, ohne die ein, zwei Jahre in der Abschlussklasse als eine Art «Schule fürs Leben» abzusitzen. Ich sah meine eigene Welt aus den Fugen geraten, mein
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