Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
Vom Netzwerk:
ganzes sorgfältig zementiertes Verhalten unter dem Druck von Isabels unerwarteter Entschlossenheit zusammenbrechen. Es war anstrengend, zugleich an der Hochschule und an der Universität zu studieren, und da die Arbeit in Sozialkunde (das Thema war bereits gestellt – «Die Entwicklung der Großstadt») Buchlänge haben sollte, konnte ich mir nicht vorstellen, wie ich Isabel und meine Sorge um ihr Fortkommen «unterbringen» sollte. Meine Gewohnheit, mich so zu verhalten, wie es von mir erwartet wurde – «gehorsam, überhaupt kein Problem» –, und meine Versenkung in die Welt der Literatur ermöglichten es mir, mein kontemplativesLeben zu genießen, denn wie sehr ich mir auch wünschen mochte, unterwegs abgelenkt zu werden: mein Ziel war die Dichtung. Mein Blick nach vorn war eingeschränkt, und wenn ich zur Seite schaute, auf andere, die ihre unterschiedlichen Wege gingen, blieb er eingeschränkt. Ich wollte, dass Isabel so war wie früher unsere Puppen (in Stoff gewickelte Wäscheklammern), die wir in winzige Kartons gezwängt und darin aufbewahrt hatten, behaglich und warm eingehüllt und unfähig, sich ohne unsere Hilfe zu rühren. Sie sollte eine gute Studentin sein, sich «benehmen», gehorchen, studieren und vielleicht auch anerkannt sein bei den Studenten und bei den Lehrern (obwohl ich mir das nicht eingestand), damit der Direktor sagte: «Es war kein Fehler, dass wir diese Frame-Mädchen in die Hochschule aufgenommen haben, sie sind zwei unserer besten Studentinnen und Lehrerinnen.» Tante Isy, in Erwartung einer zweiten lammfrommen Frame, die ihr Bestes tun würde, um sich unsichtbar zu machen und klaglos die Regeln zu akzeptieren, die ich selbst aufgestellt hatte, bot Isabel an, bei ihr zu wohnen, und als wir in der Garden Terrace 4 ankamen und Isabel und ich allein in dem kleinen Zimmer waren, das wir miteinander teilen sollten, empfand Isabel es als unerhört, dass sie das fünfundsiebzig Zentimeter breite Eisenbett mit mir teilen sollte. Es war meine Schuld gewesen: Als Tante Isy fragte, ob wir damit zurechtkommen würden, hatte ich schüchtern gesagt:
    «Ach, das ist schon in Ordnung so.»
    «Allein der Gedanke!», sagte Isabel wütend.
    «Ach, sag bloß nichts», sagte ich und versuchte Isabel zu beschwichtigen. Wir wussten beide, dass man nirgendwo sonst für zehn Shilling pro Woche wohnen konnte.
    Wir fanden nur wenig Schlaf, waren ständig gereizt, strittenmiteinander und zankten uns um das Bettzeug, genau wie früher zu Hause. Entsetzt darüber, dass ich, ohne zu murren, unsere winzige Ration Essen hinnahm und am Ausgussbecken in der Spülküche aß, drohte Isabel, sie würde «Mum sagen», dass Tante Isy uns hungern ließ; dass sie uns dazu nötigte, in der Spülküche zu essen und in einem winzigen Bett in einem winzigen Zimmer zu schlafen, kaum groß genug, um sich darin umzudrehen; dass wir Tag und Nacht froren, weil ein eiskalter Wind vom Hafen her oder von Flagstaff und den weiter draußen gelegenen Hügeln das North-East-Valley herunterwehte, während Tante Isy in ihrem Esszimmer aß und ihre Zehen vor einem flackernden Feuer toastete.
    Ich überredete Isabel, nichts zu sagen.
    «Nicht jetzt, warte bis Semesterschluss.»
    Schon in den ersten Wochen an der Hochschule gewann Isabel Freunde, sie fand einen Freund, der im Lauf der Zeit ihr «fester» Freund wurde, obwohl sie ab und zu andere hatte, und sie benahm sich so, wie ich befürchtet hatte; sie «führte sich wild auf», mit einer Wildheit, die nur für mich in meiner übertriebenen Zurückhaltung besorgniserregend war. Sie entdeckte das Rollschuhfahren und wurde eine ausgezeichnete Rollschuhläuferin. Sie verbrachte jeden Abend auf der Rollschuhbahn, während ich meine Träume für ihre Zukunft dahinschwinden und ihre ganze «Ausbildung» als vergeudet sah – warum studierte sie nicht, warum nahm sie nicht die Gelegenheit wahr, zu lesen, zu lernen? Ich sprach kaum mit ihr darüber, denn mir war klar, dass es
meine
Träume waren, und ich erinnerte mich, dass ich über Myrtle ebenso gedacht hatte.
    Nachts jedoch, wenn jede von uns beiden die Bettdecke auf ihre Seite zog, verriet mein besonders heftiges Zerren einiges von meiner Enttäuschung über Isabel.
    Mit Isabel in der Garden Terrace 4 gab es im Leben «Zwischenfälle». Zum Beispiel die «Zeit der Pralinen». Einmal hatte ich in das kleine, vorderseitig gelegene Wohnzimmer gelugt, wo die Vorhänge immer zugezogen waren, und gesehen, dass auf der Bilderleiste eine lange

Weitere Kostenlose Bücher