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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Reihe großer Pralinenschachteln stand, mit Satinschleifen geschmückt und mit englischen und schottischen Ansichten sowie mit gefälligen Tierfotografien bedruckt. Als ich Isabel eines Tages, als Tante Isy nicht zu Hause war, von den Pralinenschachteln erzählte, sagte sie: «Schauen wir uns im Vorderzimmer um.»
    Gleich hinter der Tür stand eine große Kommode mit Laden voller Kleidung und Fotografien. In der untersten Lade fanden wir, in Seidenpapier gewickelt, eine Garnitur gestrickte weiße Babywäsche; es lagen auch Babydeckchen und Windeln darin. Wir wussten, dass Dads Schwestern Polly und Isy tote Babys zur Welt gebracht hatten – oder welche, die nach wenigen Tagen oder Wochen gestorben waren, und wir hatten einen Bruder gehabt, der eine Totgeburt war, und schon als Kinder hatten wir eine Art sehnsüchtige Gier in Tante Pollys und Tante Isys Gefühlen uns gegenüber gespürt, vor allem in Tante Isys Interesse an Myrtle und Tante Pollys konkret geäußertem Wunsch, Chicks oder June zu «adoptieren». Schnell schlossen wir die Lade und wandten unsere Aufmerksamkeit den Pralinenschachteln zu. Wir stellten fest, dass sie noch originalverpackt waren.
    «Sie kann sie doch nicht die ganze Zeit über aufbewahrt haben», sagten wir. Wir wussten, dass Tante Isy die Pralinen beim schottischen Volkstanz gewonnen hatte.
    «Schauen wir hinein», schlug Isabel vor.
    «O nein, das dürfen wir nicht.»
    «Wir öffnen eine und testen sie.»
    Ebenso begierig darauf wie Isabel, den Inhalt der Pralinenschachteln zu untersuchen, doch im Bewusstsein meiner Verantwortung als ältere Schwester, war ich froh, das moralische Problem mittels Sprache verschleiern zu können.
    «Ja, testen wir sie.» Testen, das war schließlich etwas anderes. Falls die Schachteln tatsächlich Pralinen enthielten, bedeutete
testen
noch nicht
essen
.
    Wir nahmen eine Schachtel von der Bilderleiste, banden vorsichtig die Schleife auf, entfernten das Zellophan, hoben den Deckel und schauten hinein, auf die Reihen von Pralinen in ihren braunen, gefältelten Behältern.
    Wir setzten uns auf das Sofa und begannen zu kosten.
    «Sie sind gut, überhaupt nicht verdorben.»
    Wir aßen weiter, und als die Schachtel leer war, legten wir die Konfektpapiere hinein, machten die Schachtel zu, steckten sie wieder in ihre Zellophanhülle und banden das Satinband vorne wieder zu einer Schleife. Wir kletterten hinauf und stellten die Schachtel auf die Bilderleiste.
    Während unseres Aufenthalts in der Garden Terrace aßen wir nach und nach alle Pralinen aus all den Schachteln auf der Bilderleiste, stellten die Schachteln zurück, wenn wir fertig waren, und jedes Mal, wenn wir uns ins verdunkelte Vorderzimmer schlichen, dachten wir an die neue Babywäsche, sahen sie uns aber nicht mehr an; und während wir uns satt aßen, machten wir uns Gedanken über Tante Isy und wie ihr Leben verlaufen war, und ich erzählte Isabel von Onkel George im Bett und vom Lanolin, und wenn wir die leeren Konfektpapiere in die leere Schachtel legten, empfanden wir beide einen Widerwillen gegen das, was wir taten, nämlich Tante Isys in Ehren gehaltene Andenken essen: essen, essen. Die Kräuselung um die Konfektpapiere war wie die am Rand abgeschliffeneKrause jener kleinen Muscheln, die man am Strand aufbricht und in deren Innerem man ein kleines totes Häufchen mit einem schwarzen toten Auge findet.
    Am Ende des zweiten Semesters flog alles auf. Isabel schrieb schließlich doch nach Hause und beklagte sich darüber, dass Tante Isy mich ein ganzes Jahr hatte hungern lassen und dass wir beide Hunger litten und während des Winters in nur einem Bett in einem winzigen Zimmer froren. Isabels Brief bewog Mutter zu einer prompten, an Tante Isy gerichteten Erwiderung, die daraufhin an Dad, ihren Bruder, schrieb und der Meinung Ausdruck verlieh, «Lottie» sei «immer eine schlechte Hausfrau» gewesen. Auf Mutters empörte Antwort folgte Tante Isys Anschuldigung, es sei ein Irrtum ihrerseits gewesen, Isabel und mich für «reizende Mädchen» zu halten. Wir hätten alle ihre Pralinen gegessen, teure Andenken! Offensichtlich hatte sie bei einem ihrer seltenen Besuche im Vorderzimmer ein vergessenes Konfektpapier auf dem Teppich gefunden.
    Im Zuge des folgenden Briefwechsels fanden Onkel Georges Schwestern abfällige Worte für die «grässlichen Frames»: dass die Kinder immer außer Rand und Band gewesen und ganz verwildert auf den Hügeln von Oamaru herumgelaufen seien, dass es bei den Frames aussehe

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