Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
schreiben (und zu illustrieren), das heißt, dem üblichen, allgemein akzeptierten Gewand der Prosa meine eigene Giraffe aufzunähen. Schließlich wurde der Text zu einer geographischen, historischen und sozialwissenschaftlichen Version des Romans
Die Wellen
von Virginia Woolf, mit bizarren Illustrationen, die ich aus Zeitschriften ausschnitt, da ich keine «Hand» fürs Zeichnen hatte. Später erfuhr ich, dass das Urteil über meine «Entwicklung der Großstadt» ähnlich ausfiel wie jenes über Isabels Kleidung, obgleich ich auch hörte, dass jemand die Ansicht geäußert hatte, es könne «mehr in mir stecken als vermutet».
Im letzten Jahr an der Hochschule bereiteten mir vor allem zwei Dinge Freude: meine Entdeckung der bildenden Kunst in den anregenden, von Gordon Tovey gehaltenen Vorlesungen, und die Darbietungen des Hochschulchors, in dem alle mitsangen, selbst die, die keine schöne Stimme hatten. Unter der Leitung von George Wilkinson, genannt Wilkie, sangen wir «Die Lady von Shalott», «In Flores auf den Azoren» (die Ballade von Richard Grenville) und die Ode «An die Freude» aus Beethovens neunter Symphonie. Ich erinnere mich, dass wir probten und probten und dass ich schließlich sang, von Tränen überwältigt bei diesem bedeutsamen Ereignis, umringt von singenden Stimmen, alles in dem Empfinden, mich in einem oberen Stockwerk von Herz und Geist zu befinden, mit einer Freude, von der ich hoffte, sie würde nie enden, und wenn ich an jenen Abend in der Stadthalle von Dunedin denke, an die dicht gedrängten Reihen des Chores und das dicht gedrängte Publikum und an Menschen, von denen man sich nie hätte träumen lassen, dass sie singen würden, und an mich selbst, die ich sang:
wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum!
– dann erinnere ich mich noch heute an das Glücksgefühl und erkenne es als eine der Belohnungen, die das Bündnis mit jedem großen Kunstwerk mit sich bringt, so als wären gewöhnliche Menschen plötzlich dazu aufgerufen, die Sichtweise der Engel zu begreifen.
Das Jahr ging zu Ende. Ich sandte meine Gedichte an die Hochschulzeitschrift und gewann zehn Shilling als ersten Preis für «Katze»:
Taub gegen das hämmernde Fenster
und das Miauen des schwachsinnigen Jungen,
lasse ich die zerfetzten Mäuse sein,
fließe durch seine leeren Augen
und setze mich auf, gestützt von fetten Gedanken.
Doch der Wille des schlagenden Jungen
bricht ein in mein Ohr, kriecht
wie eine eingerollte Katze in mein Hirn,
schnurrt und schläft
und lässt mich aus dem Haus tappen
zu den zerkratzten Wolken und zum zerkrallten Mond;
und die Winde fließen durch meine leeren Augen
wie zerfetzte Mäuse.
Das andere Gedicht, ebenfalls abgedruckt, war «Tunnelstrand»:
Immergrün der Möwe, verwurzelt im Meer,
vergraben in grünem Schmerz, zieht
der Möwenstrauch genug Flehen an,
um die toten Ohren der Klippe mit Weinen zu nähren
oder die Augen der Welt ewig mit Tränen zu füllen.
Hier im Tunnel, getrennt vom Schmerz, würgt
der Möwenstrauch unsre tastende Kehle
in weißem Blütensturm,
erkennt keine Wurzeln an
in der grünen Guillotine und der einlullenden Meerfrau.
Nur wo Licht durchsickert, wo Steinmenschen,
den Strandruf zermalmend,
einen Kerker ihr Herzensheim nennen,
wie Angebote von Fleischern, heimliche Spartanerjungen,
da brechen die Steinseelen, die verrückten Seelen auf,
verankern das Meer und den weißen Vogel
in einem einzigen Strauch, endlos und allein.
Ich zitiere die Gedichte, weil sie, aus dieser Zeit stammend, den Einfluss von George Barker und Dylan Thomas erkennen lassen wie auch mein Bemühen, mich selbst als vollständiges Wesen zu akzeptieren und für mich verantwortlich zu sein, ohne meine inneren Träume verbergen zu müssen, um sie zu bewahren, und ohne täuschen zu müssen, indem ich Lehrerinnenrollen spielte, lächelnd, glücklich, «ein reizendes Mädchen, überhaupt kein Problem».
Manche Erinnerungen sind verwässert, hauptsächlich wegen der Stürme, die folgten beziehungsweise einen überraschten; die Farbe dieser Erinnerungen ist fortgespült, ihre Form verloren. Ich wusste, dass die Familie verzweifelt nach einer Bleibe suchte. Dad, der das Geld verwaltete, erwarb Aktienbei einer neu gegründeten Baugenossenschaft, in der Hoffnung, bei der monatlichen Abstimmung ein Darlehen zu bekommen, während Mutter, die nie eigenes Geld gehabt hatte, ihren Glauben beisteuerte: «Gott weiß, was man braucht, noch bevor man darum
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