Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
Bemühungen; und als ich genug Geld gespart hatte, um mir eine Schreibmaschine,eine gebrauchte Barlock 20, zu kaufen und meine Arbeit zu tippen, zunächst mit zwei oder drei Fingern, hatte ich das Gefühl, alles auf der Welt zu haben, was ich mir wünschte – einen Platz zum Schreiben, Zeit zu schreiben, genug Geld um zu leben, jemanden, mit dem ich reden oder den ich zumindest beeindrucken konnte, denn die meisten meiner Gedanken behielt ich für mich, und eine Krankheit, die interessant genug war, um mir als Verbündete bei meinen künstlerischen Bestrebungen zu dienen und – vorausgesetzt, ich behielt die richtigen Symptome bei – Gewähr dafür zu leisten, dass mir John Forrest als Zuhörer auch weiterhin erhalten blieb. Ich spielte ein Spiel, halb im Ernst, um die Aufmerksamkeit eines sympathischen jungen Mannes zu gewinnen, dessen Interessen die Psychologie und die Kunst waren; doch obgleich ich Halluzinationen und Visionen nur vortäuschte, war ich zusehends beunruhigt über die Ähnlichkeit zwischen manchen meiner echten Gefühle und denen, die Menschen mit Schizophrenie zugeschrieben wurden. Ich war sehr schüchtern, in mich gekehrt. Lieber schrieb ich, erforschte die Welt der Fantasie, als mich unter die anderen zu mischen. Ich war jedoch niemals abgeschnitten von der «realen» Welt, obgleich ich mir dieses Symptom in überzeugender Weise «zunutze machen» konnte, wenn der Anlass es erforderte.
Ich war mir noch keiner sexuellen Gefühle bewusst, obgleich ich sie zweifellos hatte, sie jedoch in meiner Unschuld nicht erkannte. Eines Tages dann, vertieft in eine Fallgeschichte über Schizophrenie, las ich von einer Frau, die sich vor dem Zahnarzt fürchtete (genau wie ich, obwohl mich auch Geldmangel abschreckte), und als man den Fall nach der freudianischen Methode untersuchte, entdeckte man, dass
Angstvor dem Zahnarzt
bei den an Schizophrenie Leidenden häufig auftrat; diese
Angst vor dem Zahnarzt
wurde als
Schuldgefühl wegen Masturbation
gedeutet, was angeblich einer der Gründe und ein fortgesetztes Symptom der Schizophrenie war!
Ich überlegte mir folgendes: Zweifellos hatte ich Angst vor dem Zahnarzt, da ich wusste, dass meine Zähne nicht mehr zu retten waren (man war damals in Neuseeland allgemein der Ansicht, dass man ohnehin am besten daran tat, die natürlichen Zähne zu ziehen, es war eine Art kolonialer Verschwendungssucht, so wie das unnötige Abholzen der Wälder). Was das Masturbieren betraf, so war es eine Welt, die mir unbekannt war und eine Handlung, die ich mir nicht hatte zuschulden kommen lassen. Dieser neue Umstand machte mich jedoch neugierig genug, sowohl die Bedeutung als auch die Handlung zu erforschen, denn zweifellos musste ich darüber Bescheid wissen, wenn es als eine der Ursachen meiner Krankheit angesehen wurde! Zufällig ergab es sich, dass auch meine Schwestern das Gefühl hatten, zu wenig über Sex zu wissen, und da wir niemanden hatten, der uns das theoretische Wissen darüber vermitteln konnte, ließ ich mir ein viel beworbenes Buch senden, das auch bald in seinem schlichten Umschlag eintraf:
Begegnung und Paarung
. Jeder
Gebildete,
der eine gesunde Einstellung zur Sexualität hatte, las
Begegnung und Paarung
und empfahl es weiter. Wir fanden darin Details, nach denen wir vergeblich in Mutters Buch
Der Arzt im Haus
unter der Kapitelüberschrift «Gottes freie Natur» gesucht hatten, ein Kapitel, das für Frauen kurz vor der Heirat bestimmt war.
Begegnung und Paarung
verwies unter anderem auch auf die Masturbation, beschrieb sie ausführlich und erklärte, dass sowohl bei Frauen als auch bei Männern nichts dagegen einzuwenden sei und man deshalb keine Schuldgefühle zu haben brauchte.
Und natürlich probierte ich es aus. Und plötzlich war die Kindheit weit, weit weg, denn ich
wusste Bescheid
und konnte nicht zum Stadium der Unwissenheit zurückkehren, und es blieb die Neugier: Wie war es, wenn man nie diese Erfahrung machte? Wenige Wochen später sagte ich zu John Forrest: «Es ist schrecklich, ich kann es Ihnen gar nicht sagen, seit Jahren habe ich deswegen Schuldgefühle. Es ist … es ist …»
Er wartete gespannt.
«Es ist das Masturbieren, was mich quält …»
«Für gewöhnlich ist das so», sagte er und begann zu erklären, so, wie unser Buch es erklärt hatte, dass es «völlig normal» sei und «jeder es tue».
Das Schema dieser «kleinen Unterhaltung» war so perfekt, dass ich mir (jetzt) einbilde, gesehen zu haben, wie ein flüchtiger Triumph
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