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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Schornsteine des Altersheimes
Parkside
, das meiner Vorstellung von einem englischen Armenhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert entsprach. Wenn ich mit meiner vormittäglichen Arbeit fertig war, ging ich in mein Zimmer, setzte mich auf das Bett und schrieb meine Kurzgeschichten und Gedichte, denn so, wie es in meiner Kindheit eine Zeit für das Schreiben gegeben hatte und das Wissen, dass auch andere Kinder ihre Gedichte schrieben, war ich mir nun der Schriftsteller in meinem eigenen Land bewusst. Die Inspiration für meine Kurzgeschichten bezog ich teilweise aus meiner Lektüre von William Saroyan und aus meiner blinden Begeisterung: «Das kann ich auch.» Und abgesehen von dem Reiz, sich in einem Land zu befinden, dessen eigenständige Literatur gerade zum Leben erwachte,
für sich selbst sprach –
denn viele Schriftsteller kehrten aus dem Krieg zurück und brachten die Dringlichkeit ihrer Erfahrung mit –, spürte ich den inspirierenden Einfluss meines eigenen neuerworbenen Schatzes: mein sechswöchiger Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt, was ich empfunden und gesehenhatte und was ich geworden war, mein offizieller Status als Schizophrene. Und während ich die Gäste in der Pension fütterte, fütterten sie mich aus der unsichtbaren Schale ihrer Gefühle.
    Mein Leben außerhalb der Pension bestand aus Abendvorlesungen in Logik und Ethik und wöchentlichen «Unterhaltungen» mit John Forrest in einem kleinen Zimmer im obersten Stockwerk des Universitätsgebäudes, das Professorenhaus genannt. Ich verbrachte auch Zeit in der Stadtbücherei von Dunedin, wo ich Fallgeschichten über Patienten las, die an Schizophrenie litten, und meine Bestürzung und das Gefühl, zum Untergang verurteilt zu sein, wuchsen, während ich mir auszumalen versuchte, was mit mir passieren würde. Die Vorstellung, ich litte an Schizophrenie, erschien mir so unwirklich, und meine Verwirrung wurde nur noch größer, als ich herausfand, dass eines der Symptome darin bestand, dass «die Dinge unwirklich erschienen». Es gab keinen Ausweg.
    Ich fand Trost in meinen «Unterhaltungen» mit John Forrest, da er meine Verbindung zu der Welt war, die ich gekannt hatte, und weil ich wollte, dass diese «Unterhaltungen» weitergingen, baute ich ein eindrucksvolles schizophrenes Repertoire auf: Ich lag auf der Couch, während der junge, attraktive John Forrest, strotzend vor neu angewandtem Freud, notierte, was ich sagte und tat, und unversehens setzte ich einen verschleierten Blick auf, als wäre ich in einem Traum, und fing an, eine Fantasie zu erzählen, als erlebte ich sie in Wirklichkeit. Ich beschrieb sie ausführlich, während John Forrest zuhörte, beeindruckt, ernst. Üblicherweise baute ich in diese Fantasie Details meiner Lektüre über Schizophrenie ein.
    «Sie leiden an seelischer Einsamkeit», sagte John eines Tages.Trotz all seiner Unerfahrenheit, seines eifrigen Bestrebens, die Psychologie praktisch anzuwenden, und seiner offensichtlichen Bereitwilligkeit, alles zu glauben, was ich sagte, war die Tiefe seiner Wahrnehmung meiner «seelischen Einsamkeit» ein Kennzeichen seiner besonderen Fähigkeiten. Kurz darauf machte er die Bemerkung, die mein Verhalten und mein Denken über viele Jahre bestimmen sollte.
    «Wenn ich an Sie denke», sagte er, «dann denke ich an van Gogh, an Hugo Wolf …»
    Ich, die ich in meiner Ignoranz kaum etwas über van Gogh oder Hugo Wolf wusste, wandte mich zu meiner Information wieder einmal an Bücher; ich fand heraus, dass Hugo Wolf «in geistiger Umnachtung starb» und dass van Gogh «sich aus Verzweiflung über seinen Zustand erschoss». Ich las, dass auch Schumanns «geistige Gesundheit immer mehr verfiel». Alle drei wurden als
schizophren
bezeichnet, wobei ihre künstlerische Begabung offensichtlich die Krönung ihrer Schizophrenie war. Große Künstler, Visionäre …
    Mein Platz an der schrecklichen Festtafel war also bestimmt. Ich hatte keine Illusionen, was meine «Größe» betraf, aber immerhin konnte ich meiner Arbeit und – falls nötig – meinem Leben den Stempel meiner Schizophrenie aufdrücken.
    Als John Forrest erfuhr, dass ich Gedichte und Kurzgeschichten schrieb, war er begeistert. Er schlug vor, ich solle ihm alle nach der Abfassung zur Aufbewahrung geben, und so begann ich ihm meine Geschichten und Gedichte zu bringen. Die «Schizophrenie pur» behielt ich mir für die Gedichte vor, wo sie sich am heimischsten fühlte, und ich freute mich auf John Forrests Anerkennung meiner

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