Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
Oder nicht? Und sie hatte Papiere unterschrieben, um mich dorthin zu schicken. Mir war unbehaglich bei dem Versuch, die familiäre Liebe portionsweise aufzuteilen, um herauszufinden, wie viel davon mir galt.
Ich schaute die «normalen» Leute im Waggon an. Wussten sie, wo ich gewesen war? Und wenn sie es wussten, würden sie mich ansehen und sich dann schnell wieder abwenden, um die Angst und faszinierte Neugier zu verbergen, so als bekämen sie einen Geschmack von einer Erfahrung, die sie – Gott sei Dank, dachten sie – nie machen würden, die sie jedoch auch unbändig interessierte, ihnen Angst einflößte? Falls sie über mich Bescheid wussten, würden sie versuchen, ein Anzeichen zu finden, so wie ich, als auch ich die «Verrückten» am Seacliff-Bahnhof angestarrt hatte?
Nun ja, dachte ich, die Anzeichen waren oft versteckt, aber ich kannte sie jetzt, ich war eine erfahrene Beobachterin, ich hatte das unbekannte Land besucht.
Sie sagen auch, erinnerte ich mich mit Schrecken, dass ich
Schitzofrenie
habe. Eine Krankheit ohne Hoffnung auf Heilung.
Die Räder des Zuges jedoch, die mein ganzes Eisenbahnleben lang Kaitangata, Kaitangata, Kaitangata gesagt hatten, blieben unbeeinflusst von meiner seltsamen Krankheit – beharrlich sagte Eisen auf Eisen:
Kaitangata, Kaitangata, Kaitangata
.
Der Zug fuhr in den Bahnhof von Dunedin ein. Ich fühlte mich ganz allein, so als gehörte ich nirgendwohin. All die Tage in der Pädagogischen Hochschule, als ich ein so wunderbares Zugehörigkeitsgefühl empfunden hatte, wenn wir «Der Pfarrer ging runter» sangen, und so vertraut von Party sprachen und von Lehrproben und Inspektionen; die Englisch- und Französischvorlesungen, das Jahr, in dem ich Kinder unterrichtet hatte, die ich lieb gewann – all das war verschwunden, als wäre es nie gewesen, ein Eindruck, der noch durch die Tatsache vertieft wurde, dass ich seit meinem Verschwinden nach Seacliff kein Wort von der Hochschule, der Schule oder der Universität gehört hatte, außer einem Brief von meiner Freundin Sheila und einer kurzen Nachricht von John Forrest, in der er mich einlud, im kommenden Jahr «ab und zu ein wenig mit ihm zu plaudern». Ich klammerte mich an die Vorstellung, jemanden zum Reden zu haben, und genoss das zusätzliche Plus, dass dieser Jemand ein interessanter junger Mann war.
Ich nahm meinen neuen Status ernst. Wenn die Welt der Verrückten die Welt war, der ich nun offiziell angehörte (lebenslange Krankheit, unheilbar, aussichtslos), dann würde ich sie dazu nutzen, um zu überleben, würde mich darin auszeichnen. Ich spürte, dass sie mich nicht daran hinderte, eine Dichterin zu sein. Anders als bei meiner ersten, angstvollen Ankunft in der großen Stadt Dunedin empfand ich daher zwar ein Gefühl der Einsamkeit, aber auch ein neues Selbstvertrauen, als ich ein Taxi in die Playfair Street in Caversham nahm, im Herzen des Geländes der Anstalt für verwahrloste Kinder.
Süd-Dunedin – Kensington, Caversham, St. Kilda – war ein ärmlicher Stadtteil, wo man das Leben in ewiger «Mühe und Plage» mit der flachen Landschaft verbrachte, die diesesLeben widerspiegelte, so als würde jedes Bemühen, jede Hoffnung hier von den ständig wiederkehrenden Überschwemmungen fortgespült, wogegen die Bewohnern der Vororte auf den Hügeln im Wohlstand lebten. Ich hatte in der Caversham-Schule und in Kensington in der Schule «unter der Eisenbahnbrücke» unterrichtet, und ich hatte die Armut gesehen, die Reihen baufälliger Häuser, die durch die Zeit und den Regen und die Überschwemmungen eine verwaschen hellbraune Farbe angenommen hatten; und die blassen Kinder mit ihren strähnigen Haaren, die irgendwie feucht aussahen, so als entstiegen sie jeden Tag von Neuem dem Meer.
Meine Erinnerung an die Pensionsgäste und an den Wirt und die Wirtin und ihr Kind ist flüchtig, wie eine hastig skizzierte Ansicht in Schwarzweiß, die nur die Umrisse einer jeden Person wiedergibt, mit Haaren, die ihnen wie Gras aus dem Schädel wachsen. Doch halten sie noch immer eine unsichtbare Schale in Händen, randvoll mit Gefühlen, und es sind diese ausgesprochenen und unausgesprochenen Gefühle, an die ich mich am deutlichsten erinnere. Es waren unglückliche, ängstliche Menschen, die verzweifelt vorzugeben versuchten, sie seien glücklich, und einander bei den Mahlzeiten gern von erfreulichen Ereignissen erzählten, um so das Glück denkbar erscheinen zu lassen. Die Männer waren für gewöhnlich in den
Weitere Kostenlose Bücher