Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
Eisenbahnwerkstätten beschäftigt, die Frauen in den Fabriken – der Schokoladen- oder Marmeladenfabrik – oder in einer Zweigstelle der Wollspinnerei. Ein junger Mann verlor alle paar Wochen seine Arbeitsstelle, fand eine neue, verlor sie wieder, und abends, beim Essen, sprachen die anderen über seinen Erfolg oder Misserfolg, erklärten, entschuldigten, verurteilten. Sie kritisierten einander,machten sich übereinander lustig, fielen geschwind über die Unangepassten her. Der Mann der Wirtin ist mir nur noch als großer, blasser, gebückter Mann in Erinnerung, der Brennholz vom Schuppen ins Wohnzimmer trug, wo sich abends alle versammelten, die Frauen mit ihrem Strickzeug, die Männer mit Spielkarten oder mit der Sportzeitung; und manchmal spielte eine der Kostgängerinnen, die allgemein als «Versagerin» galt (im Gegensatz zu den anderen, die noch stichhaltige Ausreden und Gründe hatten), eine magere Frau Mitte dreißig ohne Ehemann oder Liebhaber (der Grund dafür, dass sie als Versagerin beurteilt wurde), auf den vergilbten Tasten des Klaviers, während der Junggeselle mittleren Alters, ein Verkäufer, beleibt, beliebt («Er ist immer der Gleiche, bei ihm weiß man, woran man ist»), den aktuellen Lieblingsschlager sang:
Wenn die Sonne versinkt
bis zum neuen Morgen …
Gleich bei meiner Ankunft erklärte ich, ich würde außerhalb meiner Arbeitszeit sehr beschäftigt sein und es deshalb manchmal vorziehen, in meinem Zimmer zu essen. Ich sei eine Studentin, die sich mit privater Forschungsarbeit beschäftige, sagte ich – ich, stets bereit zu einem Lächeln (in der Hoffnung, man würde meine furchtbar schlechten Zähne nicht sehen), mit meiner teilnahmsvollen Stimme, ohne sichtbare körperliche Gebrechen; und mit meiner in die Höhe stehenden Fülle rotblonder Kraushaare. Meine Aufgaben bestanden darin, das Frühstück vorzubereiten und zu servieren, das Haus zu säubern und die vier betagten Frauen zu betreuen, die, bettlägrig, jeweils in einem Eckbett im großen Vorderzimmerlagen. Ich wusch sie, half, sie umzudrehen oder den Gummiring unter ihre ausgezehrten Leiber zu schieben, von denen die Haut in Falten hing wie Hühnerhaut mit kleinen Erhebungen, wo vielleicht einmal Federn gewesen waren. Ich rieb sie mit Methylalkohol ein, wenn sie sich wund gelegen hatten, und bestäubte ihre Körper mit Puder. Ich fütterte sie, manchmal mithilfe einer Schnabeltasse aus weißem Porzellan. Ich half ihnen auf den hohen hölzernen Toilettenstuhl oder schob ihnen eine Bettpfanne unter die schlaffen Hinterbacken.
Zu meinem Erstaunen fand ich heraus, dass eine der Frauen die alte Mrs K. war, Tante Hans Schwester; Tante Han war die Frau von Onkel Bob, einem Bäcker aus Mosgiel, der sich zur Ruhe gesetzt hatte und nun in einem Tabakkiosk in der Größe einer Telefonzelle saß und Zigaretten, Tabak, Wett- und Sportzeitschriften sowie Lotterielose verkaufte. Die alte Mrs K., die auch die Mutter der Studentin war, deren Namen ich bei meiner Aufnahme in die Pädagogische Hochschule als den der «Nichte meiner Tante» «fallen gelassen» hatte, war eine große, grobknochige Frau mit gebieterischer Miene und spitzer Nase und Kinn. Die Familie kam von «Up Central», und sogar Mrs. K. hatte etwas von den Hügelformationen in Central Otago in ihren Körper aufgenommen. Wie bei ihrer Schwester, Tante Han, waren Mund und Lippen stets bereit, spontane Missbilligung auszudrücken. Dad sagte immer, Tante Hans Mund sehe aus wie das Hinterteil einer an Legenot leidenden Henne.
Hier bei Mrs B. freundete ich mich mit Tante Hans Schwester an. Ich entdeckte, dass ich mit den Alten und Kranken behutsam und unendlich geduldig umzugehen verstand. Es gefiel mir, sie zu bedienen, für ihr Wohlbefinden zu sorgen,ihre Wünsche zu erfüllen, ihnen das Essen zu bringen, das sie bestellten. Ich musste weder Ungeduld noch Gereiztheit oder Zorn unterdrücken: Ich schien ein «geborenes» Dienstmädchen zu sein. Diese Erkenntnis erschreckte mich: Ich verhielt mich, wie meine Mutter es während all der Jahre getan hatte, die ich sie kannte, und meine neue Rolle machte mir Vergnügen: Ich konnte mich selbst vollkommen auslöschen und nur vermittels der Gefühle anderer leben.
Mein Zimmer, eine ehemalige Wäschekammer, war klein, mit Regalen an einer Wand und einem schmalen Bett an der anderen. Die Aussicht aus dem einzigen kleinen Fenster war «echt Caversham» – trostlose graue Steinhäuser und ein unvollständiger Blick auf die hohen
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