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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Sinn für Realität sah ich ein, dass «Mit herzlichen Grüßen» zu keinen großen Hoffnungen Anlass gab, nicht einmal, wenn man es Buchstabe für Buchstabe untersuchte oder leise in romantischem Tonfall wiederholte. Ich war nicht verliebt in John Forrest, doch ich bedurfte seines Interesses und seiner Beachtung, und es erfüllte mich mit Befriedigung, die Neugier in Mutters Blick zu sehen, wenn sie fragte: «Hast du etwas von Mr Forrest gehört?», und mit meiner Antwort die Hoffnungen, die sie sich vielleicht machte, zu dämpfen: «Es ist nicht, wie du denkst, Mutter. Es ist nur eine vorübergehende Übertragung. Das ist ein bekanntes Phänomen. Du verstehst das nicht.»
    Es war auch ein Sommer der Vorahnungen und Veränderungen. Beim Schwimmen im Schwimmbad war Isabel kollabiert und hatte sich gerade noch aus dem Wasser ziehen können. Der Arzt, den man holen ließ, sagte: «Ihr Herz.» Da es zu entsetzlich war, sich eine Wiederholung vorzustellen, schoben wir den Vorfall beiseite; ich bin nicht einmal sicher, ob wir es unseren Eltern sagten. Isabel hatte ein schaffensfrohes erstes Unterrichtsjahr hinter sich, und sie und ihr treu ergebener Freund dachten an Verlobung und Heirat.
    Isabel und June und ich, einander sommernah nach unserer unvermeidlichen Trennung durch das Erwachsenwerden,entdeckten in uns ein neues Gefühl für unsere Eltern und die Opfer, die sie uns gebracht hatten, und beschlossen, dass es jetzt an der Zeit sei, unser erspartes Geld zusammenzulegen und Mutter den Urlaub zu schenken, von dem sie immer geträumt hatte, einen Besuch in ihrer Heimatstadt Picton. Dad zeigte kein Interesse mitzukommen, denn er verbrachte seinen jährlichen Urlaub bei Tante Polly, für gewöhnlich während der Footballsaison, um sich die Auswahlspiele anzusehen. Jetzt sollte Mutter
ihren
Urlaub haben.
    «O nein», sagte sie. «Gebt das Geld doch für euch aus.»
    Wir überredeten sie, zu fahren und Isabel mitzunehmen, und alle – Dad, Bruddie, June, Isabel und ich – steuerten Geld dazu bei, und Anfang Februar, ihre Freifahrkarte erster Klasse in ihrer neuen Handtasche, in ihrem besten – ihrem einzigen – Kostüm und mit einem neuen Strohhut, brach Mutter mit Isabel zu ihrem ersehnten Urlaub auf.
    Wir begleiteten sie zum Expresszug. Mit unserer neugewonnenen Feinfühligkeit gegenüber dem, was wir voll Trauer, Bedauern und Schuld «das Leben, das Mutter gehabt haben muss» nannten, versuchten wir ihre sichtliche Besorgnis bei dem Gedanken, von zu Hause wegzugehen, zu beschwichtigen. Wir trugen ihnen auf, dass entweder Mutter oder Isabel uns in den ersten paar Tagen nach ihrer Ankunft anrufen sollte.
    «Nur damit wir beruhigt sind.»
    «Und du freust dich doch, dass du fährst, nicht wahr, Mutter?»
    Wir wussten, dass sie sich freute. Wir konnten in ihrem Gesicht die Freude von einst aufflackern sehen – ach, Waikawa Road, ach, Old Caps und das Maoridorf, ach, der Marlborough Sound und Port Underwood, Diffenbach und der Kiesweg,wisst ihr noch, der Kiesweg, Kinder, die Stürme und die Schiffbrüche. Ach, die Pioneers …
    Wir winkten, bis der Zug völlig außer Sichtweite war, das heißt, bis er hinter den Lokomotivschuppen in der schieren flachen Ferne verschwunden war, wo die beiden Bahnlinien zusammenliefen, so, wie wir es im Unterricht über Perspektive gezeichnet hatten, und bald waren der Zug und die Menschen darin ein dünner Strich, ein I mit einem Rauchfähnchen, einem S, darüber, weit hinter der Knabenoberschule und Pukeuri auf dem Weg durch die Canterbury Plains nach Christchurch und Picton.

13
Noch ein Tod durch das Wasser
    Mutters Abwesenheit war wie ein Tod. Dad saß missmutig an seinem Ende des Tisches beim Kohleherd und las die letzte Ausgabe des
Humour
, und es war niemand da, der seinen Tee zuckerte und umrührte und seine Aufregung teilte, wenn die Bläschen, Vorboten von zu erwartenden
Paketen
, an die Oberfläche stiegen – «Schau, zwei Pakete!» –, und niemand, der ihm den Rücken kratzte und sein Bett teilte und bei dem er sich beklagen konnte – «Deine Füße sind wie Fettklumpen.»
    June und ich sollten das Essen kochen und Bruddie mit den Kühen helfen, aber schon am zweiten Tag, als der Haushalt reibungslos funktionierte und wir uns Dads Wunsch gebeugt hatten, «nichts Ausgefallenes zu kochen», war Mutters Abwesenheit wie schwarzer Frost im sonnenlosen Haus. Auch Isabel fehlte uns, wieder anders; uns fehlten ihre endlosen Vorbereitungen für dies und das – dass sie sich um

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