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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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ihre Kleidung kümmerte, Rocksäume ausließ oder kürzte, versuchte, ihre Schuhe zu flicken, über alles und jeden ihre unverblümte Meinung äußerte; und sich vorstellte, wie ihre «Zukunft» sein würde. Sie hatte das Gefühl, ein Jahr als Lehrerin sei genug. Sie würde heiraten, doch abgesehen davon würde sie vielleicht als Journalistin bei einer großen Zeitung arbeiten oder – irgendetwas, ganz bestimmt
irgendetwas
. Wenn ihr in Dunedin alles zu viel geworden war, war sie immer eislaufen gegangen; hier in Oamaru ging sie schwimmen.
    Am zweiten Nachmittag des Picton-Urlaubs läutete dasTelefon, und June hob den Hörer ab und hörte durch das Rauschen und Knacken hindurch, dass «Picton am Apparat» sei. Dad war in der Arbeit, und Bruddie war nicht da. Tante Grace rief aus Picton an. Dann gab es eine unsichtbare Erschütterung in der Küche, so als wäre das Rauschen und Knacken aus dem Telefon ausgetreten: Isabel hatte beim Schwimmen in Picton Harbour einen Kreislaufkollaps erlitten und war ertrunken. Es würde eine Leichenbeschau geben, und danach würde Mutter Isabel mit dem Zug nach Hause bringen.
    Es hatte keinen Zweck, auch nur im Entferntesten anzunehmen, dass es sich um einen Irrtum handelte: Isabel war ertrunken. Seit Myrtles Tod waren fast zehn Jahre vergangen, und dieser neue Schlag brannte unser Denken und Fühlen weg wie ein doppelter Blitzschlag – was gab es da zu denken, zu fühlen?
    Wieder läutete das Telefon. Es war Dad: Er hatte die Nachricht erfahren und war auf dem Weg nach Hause. Auch Bruddie war auf dem Heimweg. Die Neuigkeit war überall: Familientragödie wiederholt sich nach zehn Jahren. Mädchen aus Oamaru ertrunken.
    Manche nannten sie «Mädchen», manche nannten sie «Frau». Isabel May Frame, in ihrem einundzwanzigsten Jahr.
    June und ich waren noch allein im Haus und trösteten einander, als jemand an die Verandatür klopfte. Es war J.B.! Die Direktorin der Waitaki-Schule, Miss Wilson, von Isabel, June und mir «die stolze Titanic» genannt, «das mächtige moderne Schiff, fünfzehntausend Tonnen Stahl …». Ich glaube, die Verblüffung darüber, einen Besuch von der Direktorin von Waitaki zu erhalten, nachdem während all der Schuljahre Freizeit und Schule so klar getrennt gewesen waren, überlagerte fast unseren Schock. Miss Wilson saß tatsächlich auf
unserem Sofa
, dem Sofa mit all seinen kaputten Sprungfedern und dem hervorquellenden Polstermaterial und dem dunklen Fleck neben der Armlehne, der immer noch die Stelle kennzeichnete, wo Bruddies Kater vor Jahren hingepinkelt hatte und wir den Fleck und den Geruch mit unserer Weihnachtsflasche Nelkenduft zu entfernen versucht hatten.
    Und plötzlich legte Miss Wilson die Arme um uns, und wir alle weinten, und wir dachten: Wenn Isabel uns nur sehen könnte, mit J. B.!
    Mein momentanes Gefühl bei Isabels Tod, so wie beim Tod Myrtles, dass vielleicht ein Problem gelöst war, aber um einen zu hohen Preis, wurde eingeholt von der traumähnlichen Realität des ersten Todes durch das Wasser, und die Tatsache, dass ich beschloss, beide in einem Zitat von T. S. Eliot gleichzusetzen, erinnerte mich daran, dass ich noch immer in einer Welt der Literatur lebte. Ich hatte das Wüste Land durchlebt; ich war Phlebas dem Phönizier begegnet, der
    … zwei Wochen tot,
    Vergaß der Möwen Schrei.
    Ich hatte den Rhythmus und das Gefühl von Virginia Woolfs
Wellen
gekannt und erfahren, die Tragödie von Tess und Jude und das Unglück, das die Familie Brontë Schlag auf Schlag getroffen hatte. Dieser neue Tod kam als ein Epilog zu den alten Geschichten und als ein Prolog zu den neuen, in unserem eigenen Land, wo das «große Meer» und die Flüsse für uns und wir «für uns selbst» sprechen würden, wo die
Zeit
sich nun schließlich doch niedergelassen hatte, auf den Canterbury Plains – nicht sehr weit weg von Picton –, als
    … der Nordwestwind, schnüffelnd in den Pinien,
    … das reißende Wasser und der Rost auf den Eisenbahnlinien
    – und selbst diese Eisenbahnlinien liefen in der Ferne zu einer schmalen Linie zusammen, die zum dunklen Strahl der Abwesenheit wurde.
    Und wieder passten unser Kummer und unsere Tränen ins vertraute Muster, wobei die gewöhnlichen Gegenstände zu den quälendsten wurden: die unbeendete Näharbeit, die aufgetrennten Säume der Sommerkleider, Isabels neuer «Jiffy»-Mantel, ein kurzer Mantel mit weiten Ärmeln, der damals in Mode war, die weißen Sommerschuhe, die mitten im Schlafzimmer lagen, wo sie am

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