Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
gehabt. Der Arzt hat ihr Morphium gegeben, und sie bringen sie in Krankenhaus.»
Ich schaute hinaus und sah, wie Mutter, offenbar schlafend, das Gesicht weiß wie Porzellan, ihr langes grauweißes Haar unordentlich auf dem weißen Kissen ausgebreitet, auf einer Tragbahre hinausgetragen wurde. Sie öffnete die Augen und begann sich dafür zu entschuldigen, dass sie krank geworden war; dann schloss sie sie wieder. Dad und Bruddie fuhren mit ihr ins Krankenhaus, und ich legte mich wieder ins Bett. Am Fußende des Bettes, wo Siggy gelegen und voll Angst aus dem Fenster gesprungen war, war eine Einbuchtungzu sehen. Ich blickte aus dem Fenster in die von Bäumen erfüllte Dunkelheit. Ich hörte das Drei-Uhr-Käuzchen rufen. Und schon verblasste die Nacht an den Rändern. Ich wusste, dass es eine Nacht des gewaltsamen Umbruchs war, wie er sich immer wieder vollzieht und als Meilenstein in der Landschaft unserer Familie aufgetaucht war.
Am Morgen wachte ich mit dem Gedanken an die komplexe, furchtbare Veränderung in unserem Leben auf, so wie vor vielen Jahren am ersten Morgen nach dem Ausbruch von Bruddies Krankheit. Ich sehnte mich danach, dass alles wieder so war, wie es gewesen war, dass Mutter still und selbstlos für uns sorgte; aber es war nicht so; Mutter hatte sich schließlich zu Wort gemeldet, unter Schmerzen. Was, wenn sie starb? Nein, sie hatten gesagt, mit viel Ruhe würde sie sich wieder erholen, obwohl sie sich
in Zukunft
öfter würde ausruhen, mehr auf sich aufpassen und sich mehr umsorgen lassen müssen.
Und während sie in sicherer Obhut im Krankenhaus lag, konnte ich die Verlassenheit im Blick meines Vaters sehen – Dad, der immer in Panik geriet, wenn er die Küche betrat und fragte: «Wo ist Mum?», und sie nicht da war, auch nur einen Augenblick nicht da war, vielleicht in einem anderen Zimmer oder draußen bei der Wäscheleine; aber nun war sie nicht mehr im Haus, und die Miene meines Vaters verriet völlige Verlorenheit und Verunsicherung.
Ich machte das Frühstück. Ich kochte die ewigen Kannen Tee für Dad, der zusammengesunken in seinem Sessel an seinem Tischende saß, aber ich ging nicht so weit, ihm sämtliche Bedürfnisse zu erfüllen, wie er es von Mutter erbeten, ja verlangt hatte – ihm den Tee zu zuckern, ihn umzurühren, ihm die Schuhe zu putzen, den Rücken zu kratzen. Ich stelltedas elektrische Bügeleisen an, um seine Taschentücher und seine Hemden zu bügeln. Er weichte seine blaue Arbeitshose selbst im Zuber in der Waschküche ein und schob sie mit dem Waschholz hin und her. Er machte auch Feuer und holte mit der Schaufel die Eisenbahnkohle vom Haufen im Schuppen neben der Hintertür.
Mutter hatte sich schließlich zu Wort gemeldet; unter Schmerzen. Der Zauber des Feuers im Kohleherd, der warmen Mahlzeiten, der Stapel von kleinen Pfannkuchen, zubereitet auf dem blankpolierten schwarzen Röstblech, die ununterbrochene Hingabe der Dienerin an den Haushalt – das alles war vorbei.
Wie konnte sie es wagen, krank zu werden! Verzweifelt wünschten wir sie uns zurück, gesund und ohne Schmerzen.
Ich besuchte Mutter im Krankenhaus. Zum ersten Mal, infolge ihrer vollständigen, dramatischen Entfernung von ihrer Familie, sah ich sie als Person, und ich war besorgt und verärgert. Sie war ja ein Mensch, wie jemand, dem man auf der Straße begegnet! Sie konnte lachen und reden und Ansichten äußern, ohne lächerlich gemacht zu werden; und da saß sie und schrieb Gedichte in ein kleines Notizbuch und las sie den anderen Patientinnen vor, die von ihrem Talent beeindruckt waren.
«Ihre Mutter schreibt wunderschöne Gedichte.»
Was hatten wir ihr angetan, jeder von uns, Tag für Tag, Jahr für Jahr, dass wir sämtliche Spuren ihres Ichs beseitigt hatten, all ihre Möbel aus ihrem eigenen Zimmer, und es mit unserem Ich und unserem Leben vollgestopft hatten; oder vielleicht war es gar kein Zimmer, sondern ein Garten, den wir rodeten, um uns dort selbst tief einzupflanzen, und jetzt, wo wir von ihr entfernt waren, hatten alle ihre eigenen Blütensich geöffnet … War es so? Und all die Schicksalsschläge, die sie hatte verkraften müssen, die Suche nach Heilbehandlungen, die beiden Leichenbeschauen, die Tochter, die für verrückt erklärt wurde, der schwache Ehemann, der nur erstarkte durch seinen zeitweiligen Zaubertrank der Grausamkeit?
Angesichts dieser Familienqual ergriff ich wie üblich die Flucht, deren Route ich mittlerweile perfektioniert hatte, und abermals landete ich im
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