Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
müssen.
In jenem Sommer kamen keine Briefe für mich. Wer sollte mir auch Briefe schreiben? Meine Schwester und ihr Mann und die beiden plärrenden Kinder flogen nach Norden, zurück nach Hause. Und wieder war ich das verrückte Frame-Mädchen, das auf den Hügeln um die Alte Mühle herumstreifte, begleitet von der Katze Siggy, die lange Spaziergänge liebte.
Ich schlief im Vorderzimmer mit Blick auf den Wiesengrund.
«Ich will nicht, dass du je wieder von zu Hause weggehst», sagte Dad. Er baute Regale für meine Bücher: für
Für uns selbst gesprochen, Neuseeländische Versdichtung, Poetry London, Kriegslyrik, Todesfälle und Eingänge, Das wüste Land
, Rilkes
Sonette an Orpheus
(in Christchurch gekauft), Shakespeare (ein Geschenk von June und Wilson in Christchurch) und andere, daruntermein Exemplar der
Lagune
. Dad gab mir Geld, damit ich mir bei Hodges Kretonne kaufen konnte, um mir helle Vorhänge für mein Zimmer zu nähen, und Mutter kaufte bei Calder Mackays («wir sind geschätzte Kunden») eine neue rosafarbene Daunendecke für mein Bett.
Das Familienszenario wurde fixiert.
Wenn ich über meine Zeit in der Anstalt sprach, schilderte ich nur die belustigenden Vorfälle und die Stereotypen der Patienten – Jesus Christus, die Königin, die Kaiserin.
Dad erweiterte seinen Vorrat an Sexton-Blake-Büchern aus der Bibliothek («Janet mag Detektivgeschichten»).
Mutter und ich ließen uns Rezepte einfallen und sandten sie an
Truth
, wo wir den ersten Preis für eine
Lachsmousse
gewannen.
Und obwohl Dad seine Blumen heilig waren – die Astern und Dahlien und Nelken, die, an Pflöcken hochgebunden, im kleinen Garten unter meinem Fenster standen –, bezähmte er seinen Ärger, wenn Siggy zwischen den Dahlien scharrte oder aus meinem Schlafzimmerfenster auf die zarten Nelkenstiele sprang. Nachts kletterte sie zum Fenster hinein und rollte sich schnurrend am Fußende meines Bettes zusammen, und ich beugte mich hinunter und streichelte ihr schwarzes Fell und flüsterte: Siggy, ach Siggy, was soll ich nur tun?
15
Nadeln einfädeln
Die Antwort wurde für mich getroffen. Ich fand Arbeit als Hilfswäscherin im städtischen Krankenhaus von Oamaru, wo ich die Tage abgeschieden im Mangelraum verbrachte und die nassen heißen Leintücher herauszog, wenn sie zwischen den Rollen auftauchten, sie zusammenfaltete und einer anderen Hilfskraft weiterreichte. Unsere Gesichter waren gerötet und schweißüberströmt in der dampfenden Hitze, und die Unterhaltung neben dem Dröhnen der Maschinen bestand für gewöhnlich aus einer gerufenen Frage und Antwort («Gehst du am Samstagabend ins ‹Scottish›?», «Kommst du zu Marys Verlobungsparty?»), worüber man sich dann während der Teepausen ausführlicher unterhielt, wenn die Attraktivität des «Scottish» (ein Saal für allwöchentliche Tanzveranstaltungen) erörtert wurde und man sich auf Marys oder Vivians oder Noelines Verlobungsparty vorbereitete. Ich wusste keine Antwort auf die einfachsten Fragen: Wo ich gearbeitet hätte, bevor ich in die Wäscherei gekommen sei? Ob ich mit jemandem «ginge»? Weshalb ich mir die Haare nicht glattziehen ließ? Ich konnte mich über die Rundfunkserie
Die Geliebte meines Mannes
unterhalten, die wir uns jeden Vormittag um zehn Uhr anhörten. Mir waren ein paar Rennpferde bekannt, darunter
Plunder Bar
. Ich kannte Schlager – «Gib mir nur noch fünf Minuten»,
Only five minutes more,
Let me stay,
Let me stay in your arms,
All the week l’ve dreamed about our Saturday date …
–, sogar damals schon ein abgedroschener Schlager, doch ich kannte ihn. Und ich kannte die Namen der Rugby-Favoriten von Otago und Southland, die Trevathans, und den Kommentator
Peng McKenzie
. Dennoch fühlte ich mich fehl am Platz. (Siggy, Siggy, was soll ich nur tun?)
Dann, eines Nachts, mitten in der Nacht, hatte Mutter einen Herzanfall. Als ich aufwachte und den aufgeregten Lärm vernahm, fiel mir die Nacht ein, in der Bruddie zum ersten Mal einen Anfall gehabt hatte und wir alle aufgewacht und zitternd, mit weißen Gesichtern, dagestanden waren.
Diesmal kam Bruddie zu meiner Tür, wo ich verstört stand. Er sprach in dem neuen Tonfall, den Dad und Bruddie jetzt annahmen, wenn sie mit mir sprachen, so als müssten sie mich irgendwie «handhaben», aus Angst, ich könnte zusammenbrechen oder auf irgendeine ungewöhnliche Weise reagieren, mit der sie nicht fertig wurden.
«Es ist alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen. Mum hat einen Herzanfall
Weitere Kostenlose Bücher