Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
aufgeschichtetwaren; mit der Sammlung von Ansichtskarten, Briefen, kleinen Skulpturen auf dem Kaminsims; mit den Gemälden an der Wand –
Der Zuckerkahn in Chelsea
; mit dem zwischen den Regalen eingebauten Tisch, der früher als Schreibtisch verwendet worden war, auf dem sich jetzt jedoch vergilbte Exemplare des
Times Literary Supplement
, des
New Statesman
und andere Zeitschriften stapelten und über dem die elektrische Lampe mit ihrem Rechteck aus grünem Tuch hing, das an den Rändern weiß ausgeblichen war; in dem Zimmer mit der abgenutzten, nicht gestrichenen Esstheke, an der wir unsere Mahlzeiten einnahmen, mit dem Geschirrschrank und dem Abwaschbecken und dem Heißwasserschrank, wo der Quark bis zum Frühstück am nächsten Morgen warm gehalten wurde; mit dem kleinen Atlas-Herd in der Ecke, dem Blechgeschirr im Militärstil, den ein oder zwei oder drei weißen Tassen, zwei davon ohne Henkel; dem riesigen hölzernen Radioapparat, der, so Frank, von «Bob Gilbert» gebaut worden war und den Frank diskret einschaltete, wenn er die Toilette im kleinen, angrenzenden Badezimmer benützte (er war ein zurückhaltender Mann, heimlichtuerisch; aber seine Witze waren genial unanständig).
Alle von Tolstois Charakteren lebten – und einige starben – in jenem Zimmer, dessen Fenster sich auf die Geißblatthecke an der Vorderseite des Hauses öffneten und am Abend mit einer Reihe bemalter Leinwände abgedunkelt wurden, die an die Scheiben gelehnt wurden; aber der Nachthimmel blickte immer herein, und monatelang sangen die Zikaden den ganzen Tag und die Grillen die ganze Nacht.
Auch die Stechmücken sangen, wenn sie in Schwärmen vom Mangrovensumpf am Ende der Straße heraufzogen.
Wir sparten uns den
Tod des Iwan Iljitsch
als letzte Lektüreauf. Frank war entgeistert, als er erfuhr, dass ich es nie gelesen hatte.
«Der große Klassiker», sagte er.
Ich nahm das kleine dunkelblaue Buch mit seinem seidenen Lesebändchen in die Baracke mit, und am folgenden Abend redeten wir über Iwan Iljitsch und den Tod.
Aus der Anerkennung großer Literatur erwächst eine Freiheit, so, wie wenn jemand das herschenkt, was er gern behalten würde, und durch das Schenken wird neuer Raum für neues Wachstum gerodet – ein Ansturm einer neuen Jahreszeit unter einer verborgenen Sonne. Das Anerkennen eines jeden großen Kunstwerkes ist wie Verliebtsein; man schwebt im siebten Himmel; Verfall, Zerstörung, Tod sind im Inneren, nicht im Geliebten; es ist ein Sich-in-die-Unsterblichkeit-Verlieben, eine Freiheit, ein Flug ins Paradies.
Ich kann nicht umhin, mich voll Liebe an die Zeit in der Esmonde Road zu erinnern. Ich sehe mich, wie ich auf meinem hohen Stuhl sitze und Frank ansehe, der mir gegenübersitzt, während wir über
Krieg und Frieden
reden, und während wir reden, sind wir nicht mehr in der Esmonde Road, wir sind bei Pierre, sind in den Krieg gezogen und blicken Napoleon ins Gesicht; oder wir stehen neben der hartnäckigen, langsam knospenden Eiche, die sich als Letzte in die Jahreszeiten fügt, als Letzte ihre Blätter abwirft; oder am Totenbett des alten Prinzen, auch er hartnäckig wie eine Eiche, im Kampf mit der Jahreszeit.
Wir lasen auch Olive Schreiners
Geschichte von einer afrikanischen Farm
und versenkten uns so sehr in sie, dass wir zu Waldo und Bonaparte Blenkins wurden. Wenn Frank mich auch nicht in einen männlichen Gefährten verwandeln konnte, so konnte er mir zumindest einen Jungennamen geben: Waldo.
Unter meinen Besitztümern befanden sich meine Musiktruhe mit Plattenspieler aus meiner Zeit im Grand Hotel und meine Schallplatte mit Beethovens Siebter Symphonie. Ich spürte sofort Franks Missbilligung dieses «Luxusartikels». «Wenn du Musik brauchst, dann musst du sie im Kopf haben oder sie dir aus erster Hand anhören.» Das Radio war entschuldbar. Ich übernahm Franks Überzeugung, dass Musiktruhen, Fotoapparate und Tonbandgeräte unnötig, ja
bourgeois
sind und versteckte meine Musiktruhe mit Plattenspieler voll Scham im Schrank unter einem alten Rock. Eines Abends jedoch, als Karl und Kay zwei Schallplatten brachten, «Eine kleine Nachtmusik» und Beethovens von David Oistrach gespieltes Violinkonzert, sagte Frank: «Wir können sie uns auf Janets Plattenspieler anhören.» Er gab sein Einverständnis. Ich kann das Zimmer noch vor mir sehen, mit den kahlen Wandbauplatten und dem Holzboden, den Frank jeden Samstagmorgen mit einem in Leinsamenöl getauchten Lappen bohnerte («das fängt den Staub auf»),
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