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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Verwandte,
    Strandguträuber, den Körper meiner Mutter,
    spähen wie Möwen durch Feldstecher aus Angst und Leid
    über der Küste aus nach ihrer Hieroglyphe,
    wo die Dezembersonne, glühendste Todesanwältin,
    in diesem ihrem dreiundsechzigsten Jahr
    schon früh erwacht ist zu dunkelster Arbeit, ihr
    Klientenunterschriften quer über die Haut geschrieben hat
    wie Nebenflüsse trocken ohne Geheimcode
    auf Gebein gebettet, auf dünnes, totes Gebein,
    irregeführt, zungenlos, bis hin zum schmeckenden Rand
    ihres stehen gebliebenen Blutes –
    wer hätte dies voraussehen können?
    Ich war von der Tatsache tief berührt, dass Mutter am Morgen gestorben war, zur Zeit der Arbeit, dass sie früh aufstand (sich nie «erhob») und in die Küche ging und Feuer machte, und als Dad sie fand, ihm halb bewusstlos zugeflüstert hatte: «Ich habe gedacht, ich mache eine Tasse Tee …» Das waren ihre letzten Worte; sie kam nie wieder zu Bewusstsein. Als Aussage über ihr Leben könnte man sie ohne Zynismus als ihren besten literarischen Versuch werten.
    Mein anhaltendes Gefühl des Verrats, weil Frank bei Mutters Tod keine Anteilnahme gezeigt hatte, zerfloss, als ich hörte, wie er zu Kathleen, unserer Nachbarin, sagte: «Der Tod einer Mutter ist am schwersten zu verkraften. Es ist eine traurige Zeit für Janet.» Auch Frank hatte geheime Gefühle zu verbergen!

24
Die Seidenraupen
    Wenn der Sommer vorbei ist, so dachte ich, und das Wetter kühler (ein Traum: in der Kühle des Abends), werde ich noch einen Roman schreiben. Aus meiner fiktionalen Welt aufgetaucht, kann ich deutlich sehen, dass mein Aufenthalt in der Baracke mehr von Franks Zeit, Energie und Gefühl aufzehrte, als ihm lieb war, da ich nicht seine einzige
Schutzbefohlene
war und alle (Harry, Jack, der alte Jim nebenan, Franks zwei betagte Tanten, von denen eine blind war und die in Strandnähe wohnten, in einem alten Haus mit Giebeldach voll hoher, dunkler Möbel) besucht und angehört und getröstet werden mussten, und die ärmeren «Schutzbefohlenen» bekamen Gemüse aus dem Garten oder einen Zehnshilling- oder Einpfundschein. Der Besuch bei den Tanten kostete Frank am meisten Energie, denn ihre Zungen waren scharf und kritisch, während er geduldig und fügsam blieb. Wenn er von einem Besuch bei ihnen zurückkam, sagte er immer in erstauntem Tonfall:
«Meine dicken Tanten, meine gewaltigen Tanten.»
Und es waren gewaltige Tanten mit einer Art Festigkeit, die wirkte, als könnte sie niemals schmelzen. Ich glaube, sie waren die Schwestern von Franks Mutter; und ich glaube, in ihrem Unvermögen zu verschwinden waren sie wie die Vergangenheit, seine Vergangenheit: Sie waren keine Schneefrauen; sie waren zeit- und jahreszeitlos; und als die kranke blinde Tante eines Tages, als ich sie mit Frank besuchte, im Bett lag, war sie weder durch ihre Krankheit noch durch ihre Blindheit reduziert,sondern nur durch den hohen Bücherschrank aus Eichenholz, der neben dem Bett aufragte.
    Die Sommerhitze hielt weiter an. Frank begann von der «goldenen Zeit» seiner Kindheit zu sprechen, als er sich Seidenraupen gehalten hatte. Es war ein unvergessener Sommer, wie «Jener Sommer» seines kurzen, perfekten Romans. Zufällig ging ich damals eines Tages in der Karangahape Road spazieren (ein «Besitz» Aucklands, so wie Rangitoto) und entdeckte im Schaufenster einer Tierhandlung Seidenraupen. Ich kaufte ein halbes Dutzend, und am Abend packte ich sie nervös aus und setzte sie auf die Esstheke. Der Grad unserer gegenseitigen Empfindlichkeit war mittlerweile so extrem, dass jeder Schritt genau geplant werden musste, aus Angst, der eine könnte den anderen kränken oder eine Andeutung machen, die der andere nicht ertragen konnte. Ich hatte gesehen, wie Frank beim Betrachten der Ansichtskarten von seiner einstigen Europareise den Tränen nahe gewesen war; ich hatte das Gefühl, dass die goldene Zeit mit seinem Onkel und den Seidenraupen nur ihm gehörte, und ich wollte ihm nicht den Eindruck vermitteln, dass ich, die ich mir seine fortgesetzten Erinnerungen an eine glückliche Kindheit anhörte, es gewagt hatte, ihm eine Kopie der Vergangenheit anzubieten. Ich tat, als wären die Seidenraupen etwas ganz Normales. Er war begeistert, und es war eine unmittelbare Begeisterung, keine sich erinnernde. Er wiederum sah in den Seidenraupen ein Mittel, um
meine
Aufmerksamkeit zu fesseln, während er und ich meinen nächsten «Schritt» planten, der Frank zufolge darin bestehen sollte, dass ich

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