Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
Es war Vormittag, und ich arbeitete. Ich hörte, wie Frank sie zur Baracke wies.
June stand in der Tür.
«Ich muss dir etwas sagen», sagte sie. «Mutter ist heute morgen gestorben. Sie hatte gegen sechs Uhr einen Schlaganfall und ist um halb elf gestorben. Bruddie hat angerufen und es Wilson und mir gesagt.»
Ich versuchte, möglichst wenig Gefühl zu zeigen. Ich sagte: «Sie war ohnehin ausgelaugt und bereit zu sterben.»
Beim Tod von Myrtle und Isabel hatten wir einander umarmt und geweint, doch das war so lange her, und ich war so viele Jahre mit meinen Gefühlen allein gewesen.
«Ihr Leben war schrecklich», sagte ich.
June stimmte zu. Sie würden nicht zum Begräbnis fahren, sagte sie. Sie fragte, ob ich wie gewöhnlich am Wochenende zu ihnen kommen würde.
«Nein, ich glaube nicht», sagte ich.
«Wir sehen uns dann ein andermal?»
«Ja.»
«Sie haben gesagt, wir sollen dir sagen, dass sie dich mit der Nachricht nicht ängstigen wollten.»
Die Mischung aus Trauer und Erleichterung über Mutters Tod wurde verstärkt und verschärft durch das mir wohlbekannte Gefühl der Niedergeschlagenheit und des Zorns darüber, als das «zerbrechliche, verrückte» Mitglied der Familie zu gelten, das vor unangenehmen Nachrichten geschützt werden muss. Die gut gemeinte Rücksichtnahme meiner Familie machte meine Trennung von ihnen nur noch nachdrücklicher und endgültiger. Ich war eifersüchtig, dass meine Schwester als Erste vom Tod erfahren hatte, fast als wäre es ein kostbares Geschenk, das ihr überreicht worden war und dann gebraucht und schmutzig, aus zweiter Hand, an mich weitergegeben wurde. Es war teilweise ein Wiedererwachen der früheren Kindheitsrivalitäten, bei denen es darum ging, wer als Ersterdas wohlgehütete Geheimnis erfuhr, sah, begrüßte; genau genommen war diese Rivalität gar nicht von Neuem erwacht, denn sie hatte nie geschlafen!
Ich teilte Frank die Nachricht mit.
«Na und?», sagte er und bekundete damit seine Bitterkeit gegenüber seiner eigenen Familie. «Es ist besser, wenn die Eltern tot sind.»
Tapfer stimmte ich ihm zu.
In dieser Nacht, in der Ungestörtheit der Baracke, weinte ich, und als ich mich am nächsten Morgen mit Franks verächtlichen Vorwürfen wegen «all der Tränen» konfrontiert san, erklärte ich, dass ich wegen Mutters Leben weinte, nicht wegen ihres Todes. Ich bedauerte, dass wir wenig Zeit hatten, unsere Eltern kennenzulernen und uns mit ihnen anzufreunden, weil sie ihr Leben fast zur Gänze damit verbrachten, uns zu ernähren, zu kleiden und uns Obdach zu geben. Ich hatte mein Leben damit zugebracht, meinen Eltern zuzusehen und zuzuhören, zu versuchen, ihren Code zu entziffern, hatte ständig nach Anhaltspunkten gesucht. Sie waren die beiden Bäume zwischen uns und dem Wind, dem Meer, dem Schnee; aber das war in der Kindheit. Ich hatte das Gefühl, ihr Tod würde uns schutzlos zurücklassen, aber er würde auch von allen Seiten Licht einlassen, und wir würden die Realität kennenlernen anstelle der Gerüchte von Wind, Meer und Schnee, und imstande sein, jeden Augenblick des Seins zu erfassen.
An diesem Wochenende fuhr ich nicht zu meiner Schwester, und so war ich bei dem Sonntagsessen anwesend, das Frank immer für seinen Freund Harry kochte. Harry, zunächst stumm wie ein Fisch, verlor bald sein Misstrauen mir gegenüber und unterhielt sich mit mir, während Frank, nervöser alsgewöhnlich, was sich in einem übertriebenen Gestikulieren und Herumfuchteln seiner Hände zeigte, umrührte und kostete und abwog und eintunkte und schließlich seine übliche perfekte Mahlzeit servierte. Nach dem Essen ging ich wieder in die Baracke und überließ Frank und Harry ihren Gesprächen über die alten und neuen Zeiten. Sie kannten einander schon so lange, dass sie beim Reden halbe Sätze oder einzelne Wörter gebrauchten, und als ich Harry ein wenig besser kannte, begriff ich, wie sehr Frank ihn schätzte, nicht nur als treuen Freund, sondern auch als Quelle der Information über die «andere» Welt der Pferderennbahnen und anrüchigen Großstadthotels und der traurigen, heruntergekommenen Stromer unten beim Ferry Building und am unteren Ende der Queen Street. Frank hatte sein Leben als Schriftsteller perfekt inszeniert, und er achtete darauf, sich, solange er innerhalb des Schreibaktes lebte, mit Menschen zu umgeben, die ihm Neuigkeiten aus einer Welt brachten, die er in der Realität nicht länger erforschen konnte, da die physischen Anforderungen des
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