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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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abholte, sodass wir die Abendfähre über den Hafen nehmen konnten. Es war schon dunkel, ein winterlicher Vollmond schien. Paula Lincoln wartete auf dem Bahnsteig, gekleidet wie am Tag ihres Besuchs bei Frank – graue Flanellhose, weiße Baumwollbluse wie eine Schulbluse, graue Jacke und Gabardine-Regenmantel. Ihre Schuhe waren schwarze, «vernünftige» Schnürschuhe für den Winter. Sie war lebhaft und nervös und sprach mit dem englischen Akzent, den wir «Oxford-Englisch» nannten, wie man ihn bei Lehrern, Ärzten und Mitgliedern der Königsfamilie vernahm und deshalb mit Autoritäten und einem Anflug von Tadel verband. P.T.L.s Stimme hatte einen defensiven Unterton, so als schwinge ständig der Satz
So ist das eben, und da lässt sich nichts ändern
mit.
    Wir gingen vom Bahnhof zur Mole, Miss Lincoln mit leuchtenden Augen, diesmal nicht in einen Brunnen des Elends getaucht, sondern in die Mondgischt und das Mondlicht, denn plötzlich klarte sich der bewölkte Himmel auf, und das Licht ergoss sich über den Hafen. Sogar die Seidenraupen hatten mit ihren Maulbeerblättern Zeit aufgebraucht: Die Kälte der Nacht war Maienkälte, Winterkälte.
    Wir bestiegen das Fährschiff, und während wir uns auf die weite Fläche des Hafens zubewegten, ließ Miss Lincoln die Hand über die Außenseite hängen, sodass sie das Wasser berührte, und murmelte:
    «… flüssige Brocken aus Licht.»
    «So hat Greville es beschrieben», sagte sie. «Hat Frank mit Ihnen über Greville Texidor gesprochen? Haben Sie ihre Erzählungen gelesen?»
    Ich sagte, ich hätte
Diese dunklen Gläser
, Grevilles Erzählungen, zu Gesicht bekommen. Ihre Selbstsicherheit und Feinsinnigkeit hatten mich beeindruckt und im Stillen deprimiert. Auch Frank hatte von Greville und ihrem Leben gesprochen, die komprimierte Biographie wiedergegeben, die das Gespräch über jeden seiner Freunde und Bekannten begleitete und das ganz persönliche Wunder von besonderer Eigenart, Begabung oder Erfahrung betonte, das jedem eigen war wie ein blendender Köder: Das Grevilles bestand in der Tatsache, dass sie einmal mit einem Schlangenmenschen verheiratet gewesen war und die ganze Welt mit ihm bereist hatte. «
Ganz früh in ihrem Leben
.» Frank bewunderte ihr Schreiben ebenfalls, aber es war ihre «Lebenserfahrung», die ihn gefangen nahm: wo sie gewesen war, was sie gewesen war, was sie gesehen und was sie getan hatte – mit ihrem Ehemann, dem Schlangenmenschen!
    Während das Schiff sich Mount Maunganui näherte, sprach Miss Lincoln weiter über Greville und über Frank und sein früheres Leben mit seinen Freunden. Dann schwiegen wir, freuten uns am Mondlicht, und als das Schiff anlegte, sagte Miss Lincoln: «Ich bin gern mit jemandem zusammen, ohne die ganze Zeit reden zu müssen.»
    «Oh, ich auch», sagte ich mit der Begeisterung neuer Bekanntschaft. Frank hatte mir erzählt, dass Paul nicht leicht mit Menschen «warm wurde». «Sie wird dich mögen», sagte er. «Ihr werdet gut füreinander sein.»
    Manchmal verordnete Frank Menschen, als seien sie ein Medikament und er der für den Fall verantwortliche Arzt. Er verschrieb sie auch sich selbst. Wenn er sonntags für Harry das Abendessen kochte und dessen Erzählungen aus der Welt des Pferdesports zuhörte und wenn er sich Jacks Nöte und Träume anhörte und sich um Jim nebenan kümmerte, dann betrachtete Frank dies, abgesehen von seinem Vergnügen daran, als «gut für ihn». Ich fragte mich, was passieren würde, wenn Franks Freundin, Miss Lincoln, nicht mit mir «warm wurde» – oder, in ihrer Sprache, die eine Reihe von Wörtern enthielt, die in Geschichten über die Schule oder bei Somerset Maugham vorkamen, wenn es zwischen uns nicht «klickte».
    «Alle nennen mich Paul», sagte sie, während wir zur Strandpromenade gingen. «Seit meiner Schulzeit bin ich Paul.» (Ich hatte ab und zu «Miss Lincoln» gemurmelt.)
    «Nun ja …», sagte ich.
    Mount Maunganui lag wie eine Sandansiedlung mitten im Meer, mit dem Meer als einzigem Horizont, und nachdem wir die Ansammlung von Strandläden hinter uns gelassen hatten, wo Miss Lincoln Brot und Obst für uns kaufte, kamen wir ganz unvermittelt in die Ocean Beach Road.
    Rund ums Kap lag plötzlich das Meer
    Und der Mond blickte über den Bergrand
    zitierten wir gemeinsam.
    «Ich denke immer daran, jedes Mal», sagte Miss Lincoln aufgeregt, in messerscharfem Oxford-Englisch.
    «Ich liebe das ‹Begräbnis eines Grammatikers›», sagte ich, herumirrend auf der Suche

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