Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
Vom Netzwerk:
«nach Übersee» reiste, um «Erfahrungen zu sammeln» – nach unser beider Dafürhalten die passende Art und Weise auszudrücken, ich solle «lieber aus Neuseeland weggehen, bevor jemand beschloss, mich in eineNervenklinik zu stecken». Wir wussten beide, dass es in einer konformistischen Gesellschaft eine erstaunlich große Anzahl von «Bestimmern» über Leben und Schicksal anderer gibt. Frank schlug sogar vor, er könnte durch eine Konvenienzehe mein nächster Verwandter werden, was ich damals als beleidigend empfand, und nachdem er eine Nacht darüber geschlafen hatte, entschied er sich dagegen.
    Wir konzentrierten uns auf die Seidenraupen; ich streifte in der Nachbarschaft von Takapuna umher, bis ich in einem altmodischen Garten mit Blick auf den Strand und die Pohutukawa-Bäume den Maulbeerbaum fand, mit dessen Blättern wir unsere «Schutzbefohlenen» füttern konnten, und einen freundlichen Besitzer, der bereit war, mich mit Blättern zu versorgen. Frank brachte einen Schuhkarton von Hannahs Schuhgeschäft nach Hause, legte ihn mit den Maulbeerblättern aus und setzte die Seidenraupen sacht auf die Blätter. Sofort fingen sie an zu fressen. Tagsüber stellten wir den Karton auf die Seite der Esstheke, wo der Bücherschrank stand, und nachts nahm ich ihn mit hinunter in die Baracke und stellte ihn auf meinen Schreibtisch. Wir wussten, dass die Seidenraupen
ums liebe Leben
fraßen. Wenn ich in der nächtlichen Stille im Bett lag, hörte ich ein Geräusch wie das Umblättern von winzigen Seiten in einer winzigen Bibliothek, das ich seither nur, leicht verstärkt, in der Bibliothek des British Museum gehört habe, wo die Leser langsam und gleichmäßig eine geliebte Seite nach der anderen der von ihnen ausgewählten Bücher verschlingen.
    Das Schlingen der Seidenraupen war wörtlich zu nehmen, ein Geräusch ununterbrochenen Kauens und Mampfens, die ganze Nacht und den ganzen Tag (obgleich am Tag ungehört), ohne Pause, bis dieses Stadium ihres Lebens zu Endewar: ein lebenslanges Mahl. Frank erklärte, was als Nächstes passieren würde, und wir sahen zu, wie die Seidenraupen in ihr nächstes Leben eintraten, wie sie begannen, die Köpfe kreisförmig zu bewegen, wobei ein Faden wie das goldene Spinnennetz aus ihren Mäulern kam. Frank hatte jede auf einen eigenen Kartonstreifen gesetzt, den sie als Verankerung benützten, während sie sich und den Karton mit einem goldenen Kokon umhüllten, und als im Inneren alles still war, machte Frank vorsichtig einen Schnitt durch die Seide, entfernte die nackten Larven und hüllte sie in Wattenester – die übliche Zudringlichkeit, die auf dem Glauben beruht, dass die Welt, ihre Geschöpfe und ihre Erzeugnisse uns gehören. Der goldene Faden aus geflochtener Seide hing an der Wand neben dem Fenster im selben Raum, wo Iwan Iljitsch und der alte Prinz starben und Pierre Napoleon sah und die Eiche Knospen trug und ihre Blätter abwarf und wo Mozarts und Beethovens Musik gespielt wurde: ein prächtiges goldenes Zimmer.
    Allmählich wurden aus den warm in ihre Watte gebetteten Larven Falter, die einander vom ersten Augenblick an suchten, Männchen und Weibchen, und die Männchen bestiegen die Weibchen zur Paarung, die, so wie das Fressen und Einspinnen, den ganzen Tag und die ganze Nacht dauerte, bis die Männchen träge wurden und eines nach dem anderen starb, während die Weibchen, erneut mit der passenden Ausstattung, säuberlich winzige Reihen weißer Eier, wie Braillepunkte oder -striche, auf den Karton legten; dann starben auch sie, worauf Frank, der bei jedem Entwicklungsstadium der Seidenraupen seine einstigen Handlungen wiederholt und jedes Stadium erklärt und im Voraus geschildert hatte, den Karton mit den in ihre eigene Vergangenheit, Gegenwartund Zukunft eingeschlossenen Seidenraupen in die Schuhschachtel legte, die er begrub, indem er sie wie einen behelfsmäßigen Sarg in die Erde hinunterließ.
    «Das ist der Kreislauf», sagte er, und seine Worte und sein Blick erfassten damit auch andere Bezüge, andere Spezies. «Sie bleiben über den Winter dort unten, und wenn es warm wird, grabe ich sie aus, dann brüten sie, und der Kreislauf beginnt von Neuem.»
    Die Vollständigkeit, Perfektion und praktische Unzerstörbarkeit des Kreislaufs entgingen uns nicht.
    An jenem Abend feierten wir, wie Götter, mit Vat 69 dieses Leben, das dem Essen, Spinnen und der Paarung geweiht ist.
    Am nächsten Tag entwarfen wir einen Brief an den Literaturfonds, in dem ich mich um ein

Weitere Kostenlose Bücher