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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Mount Maunganui, die Eindrücke einer Engländerin von Neuseeland –, fragte ich mich: Worüber hätteMutter geredet, wenn sie und ich uns jemals von Mensch zu Mensch unterhalten hätten? Mutter, deren Gedanken sich so sehr auf ihre Familie konzentrierten, dass sie bei dem Versuch, als Individuum zu sprechen, in ihrem Denken ständig auf Faserfragmente wie «dein Vater», «die Kinder», «die Kühe», «die Lebensmittelbestellungen bei Self Help», «die Rechnung von Calder MacKays für die Decken» gestoßen wäre … Ich konnte nicht glauben, dass Miss Lincoln und Mutter historische Erinnerungen und die Gedanken dazu miteinander geteilt hätten. Wann hatte Mutter Zeit gehabt, ein Buch zu lesen?
    Während meines Aufenthalts könne ich machen, was ich wolle, sagte Paul. Es gäbe ein Fahrrad, mit dem ich fahren könne, und das sandige, ebene Gelände sei ausgezeichnet zum Radfahren geeignet. Auch habe sie sich gefragt, ob ich einige von ihren Freunden kennenlernen wolle – zum Beispiel Michael Hodgkins (den Neffen von Frances Hodgkins), der in einem kleinen Haus auf der anderen Hafenseite wohne, aber zum Spazierengehen und Muschelsuchen an den Strand komme. Oder die Gilberts, Mr Gilbert, ein bekannter Muschelkenner, und seine Frau Sarah, die viele interessante Leuten kenne. Sie seien eine gescheite Familie, «eine der alten Familien», und ihre Tochter in London sei mit mehreren Dichtern bekannt.
    Ich war beeindruckt.
    «Es ist nur so», sagte Paul in leicht beleidigtem Tonfall, «wenn ich meine interessanten Freunde nach Mount Maunganui mitnehme, dann will Sarah Gilbert sie immer stehlen, und am Ende sind sie
ihre
Freunde und nicht meine.» In dieser Phase meines Lebens konnte ich mir die Bedeutung mancher der territorialen Dringlichkeiten und Abgrenzungenmenschlicher Freundschaft nicht so recht vorstellen. Wie hatte ich all die Tricks der Verzweiflung so schnell vergessen können, die die Menschen anwenden, um sich ihres Platzes, ihres Palastes zu versichern? Die Verzweiflung von Menschen in «normaler» Umgebung war zwar weniger sichtbar, doch nicht weniger tief als bei den Menschen, die als abnormal eingestuft werden; und in beiden Fällen kann sich diese Verzweiflung durch die Umgebung noch steigern!
    Das hier war der sandige, öde Mount Maunganui, wo nur Wenige im Winter hinkamen, wo selbst die Pflanzen in Sackleinen gehüllt werden mussten, um zu überleben; die einsamen, sandverwehten Straßen; die wenigen Häuser, wo die Bewohner so wie auf allen Inseln und Halbinseln auf Nachrichten vom Festland warteten, auf interessante Besucher, die sie daran erinnern sollten, dass sie selbst und ihre dreiseitige Welt, gepachtet, solange es dem Meer gefiel, noch existierten. Ich begriff jetzt, dass das Abspenstigmachen von Freunden von einem Haushalt zum anderen vielleicht wirklich zu fürchten und dass der mögliche Verlust des Freundes dann ein bitterer Verlust war.
    Glücklicherweise konnten alle über den erklärten Exzentriker von Mount Maunganui verfügen, der um seiner selbst willen und als Neffe der berühmten Malerin begehrt war. Eines Tages kam er zu unserem Strandhaus und wartete draußen darauf, dass wir mit ihm am Strand spazierengingen. Er war vielleicht Mitte vierzig; groß, dunkel, mager, höchst ungewaschen, mit durchdringenden blauen Augen, die immer woanders hinschauten. Wir spazierten den Strand entlang, sammelten Muscheln und kehrten auf eine Tasse Tee zum Haus zurück, und obwohl er das Wohnzimmer betrat, war ihm anzusehen, wie unbehaglich er sich innerhalb von vier Wändenfühlte, und schnell ging er wieder hinaus, wo er die Brandung sehen konnte, und sobald er wieder an seinem vertrauten Strand war, entspannte er sich, teils mit uns, teils mit Meer und Himmel. Er wirkte fast wie ein Relikt, das seine Tante, die berühmte Malerin, zu hinterlassen beschlossen hatte, so wie manche Maler eine rätselhafte Gestalt auf ihre Leinwand malen oder eine unerklärte Bemerkung über Farbe und Licht zurücklassen, die für immer ein Rätsel bleibt.
    Ich lernte auch Miss Lincolns Freunde, die Gilberts, kennen. Mr Gilbert saß in einer Ecke des Zimmers am Kamin und strickte eine Jacke aus von ihm selbst gesammelten Schafwollbüscheln, die an Gestrüpp und Büschen hängengeblieben waren und die er auch selber gesponnen und gekrempelt hatte. Sarah, seine Frau, servierte den Nachmittagstee mit kleinen Teekuchen auf einem dekorativen Gebäckständer, und während Mr Gilbert nur wenig redete, obwohl er ab und zu

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