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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Sommerträumen,
    Das, von kristallner Woge eingewiegt,
    Schlief, wo die Wellen Bajas Ufer säumen …
    Das Gegengewicht zu diesen romantischen Vorstellungen von Landschaft und akademischer Abgeschiedenheit bildeten die «dunklen satanischen Mühlen» und der Schmutz und das Elend der Großstädte, denn ich hatte immer wieder gehört, wir in Neuseeland könnten uns das Elend in Städten wie London, Paris oder Glasgow gar nicht vorstellen, und wenn ich mich zum Beispiel nach London zu versetzen versuchte, stattete ich meine Fantasiebilder mit Düsternis und Armut und wild blickenden mittelalterlichen Figuren vor dem Hintergrund hoher grauer Steingebäude aus.
    «Ich habe mir noch nicht genau überlegt, wohin ich will», sagte ich.
    An diesem Abend aßen wir zum Nachtisch sandige, nach Erdbeeren schmeckende Guaven von dem Strauch, der vor der Hintertür neben dem Klo wuchs, und da ich zum ersten Mal Guaven aß, sah mir Miss Lincoln bange zu, während ich die neue Frucht kostete – sie mir schmecken ließ –, und als ich meinen Beifall bekundete, blickte sie erfreut, so als hätte ich sie persönlich beurteilt. Sie war auch empfindlich, was ihrHaus und ihre Besitztümer betraf. Ich sagte ihr, wie sehr mir ihr Haus am Meer gefalle; man fühle sich wie mitten im Meer, und das Zimmer mit den vielen Büchern sei ideal.
    «Ich werde ununterbrochen lesen.»
    Ich hatte jedoch ein wenig Angst vor Miss Lincoln – Paul –, denn schon bald nach unserer Begegnung hatte sie verkündet, sie «sage immer ehrlich, was sie denke». Obgleich ich Ehrlichkeit schätze, fürchte ich mich manchmal vor der Schärfe, dem Anflug von Aggression, mit der sie häufig ausgedrückt wird.
    «Ich sage, was ich denke», wiederholte Miss Lincoln. Ihr englischer Tonfall hatte eine vernichtende Wirkung. Ich beschloss, darauf zu achten, dass ich nicht zur Zielscheibe von Missbilligung oder Tadel wurde, denn für gewöhnlich verkünden Leute nur in einem solchen Gesprächsklima, dass sie «absolut ehrlich» sind.
    «Haben Sie
Der Brunnen der Einsamkeit
von Radcliffe Hall gelesen?», fragte sie, als ich in mein Zimmer ging. Ich hatte es weder gelesen noch je davon gehört. Sie sagte, falls ich es lesen wolle, fände ich es im Bücherregal; es sei eines der ersten Bücher über lesbische Liebe und habe bei seiner Veröffentlichung einen Skandal verursacht.
    «Sie wissen doch, dass ich Lesbierin bin», sagte sie.
    «Ja. Frank hat es erwähnt, glaube ich.» Ich sagte es leichthin, ahnungslos.
    An jenem Abend las ich das Buch, in einem eigenartigen Gefühlsaufruhr, einer Mischung aus Abscheu und Verwunderung, während ich versuchte, mir körperliche Liebe zwischen Frauen vorzustellen – ich, die überhaupt nie mit jemandem geschlafen hatte! Am nächsten Tag glaubte ich Miss Lincoln und empfand Mitleid für sie, als sie erklärte, sie hätte einelebenslange Leidenschaft für eine Schülerin aus ihrer ehemaligen Privatschule empfunden. Sie sprach von Lily, als stünde Lily vor ihr und als sei diese Leidenschaft noch lebendig. Tränen traten ihr in die Augen.
    «Lily war so wunderschön.»
    Lily war ihre immerwährende, einzige Liebe gewesen. Obwohl sie seither Freundinnen gehabt habe, bei denen es »geklickt» hätte, sei es nicht zu einer Liebe wie zwischen Mann und Frau gekommen.
    Ich entschied, dass ich Paul mochte, dass sie auch nur eine der missverstandenen Außenseiter dieser Welt war. Mich stieß die Vorstellung von weiblicher wie auch von männlicher Homosexualität ab, doch lernte ich allmählich, die geheiligten Unterschiede zwischen den Menschen zu akzeptieren, obwohl ich damals noch nichts über biologische und hormonelle Gegebenheiten wusste. Ich wusste nur, dass solche sexuellen Unterschiede für diejenigen bedrohlich und schmerzhaft waren, die das andere Geschlecht liebten.
    Ich verstand Pauls Kummer, wenn sie von vergangenen Erfahrungen erzählte, ihre Sehnsucht nach dem, was gewesen und was nicht gewesen war, und ich wusste, wie alle Ausgestoßenen würde sie sich doppelt anstrengen müssen, um die täglichen Angriffe auf ihre Sensibilität zu überstehen. Mir fiel auf, dass sie fast so alt war wie meine Mutter bei ihrem Tod – Paul war zwei oder drei Jahre jünger, und hier saßen wir und redeten miteinander von Mensch zu Mensch. Dies beschäftigte mich während meines Aufenthalts mehr als sexuelle Geständnisse, und jedes Mal, wenn wir ein neues Gesprächsthema fanden – die Literatur, Frank und sein früheres Leben und seine Freunde,

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