Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
einen belustigten Blick mit Miss Lincoln wechselte («wir verstehen uns», sagte Miss Lincoln später), erzählte Mrs Gilbert, die von meiner Bewerbung um ein Stipendium nach Übersee zu dem Zweck, «Erfahrungen zu sammeln», gehört hatte, von ihrer Tochter in London, die mehrere namhafte Dichter kannte und mit einem davon besonders gut befreundet war. Sie erwähnte einen Namen. Ob ich seine Arbeiten gelesen hätte? Ja, ich hatte ein Gedicht in einer Penguin-Anthologie gelesen.
Ich hörte ehrfurchtsvoll mit einem Gefühl des Versagens und einem Stich der Eifersucht zu, während sie ausführte, wie sehr ihre Tochter Teil des literarischen Lebens von London war.
(Und ich versuchte insgeheim, meine Panik allein bei dem Gedanken an die Gebäude, an die Stadt zu bezwingen!)
Sie sprach noch immer über ihre Tochter und den Dichterund sagte selbstsicher, zufrieden: «Sie stehen einander sehr nahe.»
Sarah Gilbert war eine starke Frau. Ich konnte mir vorstellen, dass sie einige von Miss Lincolns Freunden «geködert» hatte (in seiner ursprünglichen Bedeutung von «Fischköder»). Selbst Miss Lincoln hatte sich ködern lassen.
«Sie gehört einer der
ältesten
Familien an», erinnerte sie mich. «Beide, sie und ihr Mann – sie sind
die
Gilberts.»
Mein Aufenthalt bei Miss Lincoln (ich tat mich schwer damit, sie «Paul» zu nennen) hat sich mir auch wegen der Bücher eingeprägt, die ich las –
Alice im Wunderland, Alice hinter den Spiegeln
, die Borrower-Geschichten, die Bücher von Beatrix Potter –, welche mir vorher alle nicht bekannt gewesen waren; und wegen der
Gesammelten Predigten
von Dr. John Donne. Nachts lag ich im Bett und las, während die tosende Brandung gleich hinter dem Haus ans Ufer schlug und der Wind den Sand über die Dünen zwischen uns und dem Strand trieb und in den Vorgärten der Ocean Beach Road eine Sandschicht hinterließ, in der Dachrinne, in den Ritzen der Wände, im offenen Kamin, und immer lag ein Häufchen am Fuß der Tür im Hausinneren, als Verheißung einer Invasion und als Mahnung.
Und jeden Tag kniete Miss Lincoln in ihrer schlichten weißen Bluse und ihrer grauen Flanellhose, wie ein Flüchtling aus einer altmodischen Mädchenschule, vor ihren arg mitgenommenen Heckenpflanzen und band sie mit Streifen aus Sackleinen an Manukapfähle – die richtige Kleidung, dachte ich, für Pflanzen, die hier am Meer lebten; denn wie Frank Sargeson hegte Miss Lincoln eine tiefe Abneigung gegen jeglichen «Firlefanz», und so waren selbst die Pflanzen nach ihrem Geschmack gekleidet. Da ich meine lebenslange Begeisterungfür Kleider, die ich mir sehnlichst wünschte, doch nie besaß, aber vielleicht eines Tages besitzen würde, selbst wenn sie wie durch Zauberhand Seidenschicht um Seidenschicht aus einer kleinen braunen Haselnuss gezogen werden mussten, nicht aufgeben konnte, empfand ich meist leise Scham, wenn Frank und Miss Lincoln mit ihrer Schimpfkanonade gegen das anfingen, was sie «weiblichen Flitterkram» nannten. Sie erinnerten mich an meinen Vater und sein «Wozu brauchst du Kleider? Deine Schuluniform genügt doch völlig».
Trotz ihrer schlichten Kleidung jedoch trugen die Mount-Maunganui-Heckenpflanzen, die Pfarrhaus-von-Haworth Heckenpflanzen, stolz ein ganz besonderes, glitzerndes Band aus Salz und Regenbogenlicht, vom Meer geborgt.
Wenige Tage vor meiner geplanten Rückkehr nach Auckland kam das Telegramm von Frank.
«Vertrauliche Information erhalten. Dreihundert Pfund bewilligt. Herzlichen Glückwunsch.»
Meine Reise weg von Neuseeland würde also Wirklichkeit werden. Ich hatte so wenig Ahnung vom Wert des Geldes, dass ich nicht beurteilen konnte, ob dreihundert Pfund, die mir wie ein Vermögen vorkamen, viel oder wenig waren oder ob sie für die Fahrtkosten und für die Lebenskosten ausreichen würden, und wie lange.
Miss Lincoln freute sich mit mir über die Neuigkeit. Am Abend vor meiner Abreise feierten wir, so wie am ersten Abend, mit Pipi-Muscheln und Reis («O mein Gott, hoffentlich nicht zu viel!») und mit dem Rotwein von Keats. Und als ich dabei war, meinen kleinen Koffer zu packen, brachte mir Miss Lincoln eine säuberlich gefaltete Flanellhose.
«Sie wird dir passen», sagte sie. «Nimm sie, für deine Reise.»
Ich probierte sie an. Sie passte. Ich konnte ihr nicht sagen, dass ich nicht gern Hosen trug, dass ich diese hässlich und viel zu weit fand und dass grauer Flanell mich zu sehr an unsere alte Uniform aus der Mittelschule erinnerte.
Tags darauf
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