Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
nach weiteren Möglichkeiten, den «Klick»-Mechanismus in Gang zu bringen.
«Das kann ich im Moment nicht platzieren», sagte Miss Lincoln.
Der Strand war öde, einsam, eine weite Ausdehnung der ewig heranrollenden Brandung, und obwohl der Mond über Tauranga auf der anderen Hafenseite stand, folgte er uns, blickte herab mit seinen undeutlich sichtbaren Gipfeln und ließ einen Weg entstehen übers offene Meer, her zur Ocean Beach Road. Miss Lincoln zeigte auf einen massigen dunklen Umriss, der nun gemeinsam mit dem Meer den Horizont bildete.
«Das ist Matakana Island, es ist mit Kiefern bepflanzt; und daneben ist Rabbit Island.»
Sie zeigte nach links hinten.
«Das ist der Berg.»
Ich hatte mich daran gewöhnt, dass die Leute von der Nordinsel Hügel als Berge bezeichneten.
«Und hinter dem Ende der Ocean Beach Road, gleich um die Ecke, kann man White Island sehen und das Feuer der Vulkanausbrüche.»
Gelehrig blickte ich in die Richtung, in der White Island zu sehen sein musste.
Wir kamen zu einem kleinen weißgetünchten Strandhaus,in dem ich sofort eine Ähnlichkeit mit dem Pfarrhaus von Haworth sah. Nur die Schotterstraße und die Dünen lagen zwischen dem Haus und dem winterlichen Meer. Vor dem Grundstück erstreckte sich eine ausgedehnte Sandfläche, auf der sich ein paar graublättrige, verkümmerte Pflanzen weg vom Wind und zum Haus hin neigten.
Wir gingen hinein, und Miss Lincoln führte mich in ein Zimmer voller Bücher mit einem großen, durchhängenden Bett in der Mitte und einem sandbedeckten Holzboden. Es war kalt, nüchtern. Der rostige Fenstergriff ließ sich nicht bewegen. Das Flügelfenster wirkte wie zugefroren durch die Finsternis, die sich dahinter zusammenballte, denn der Mond, der uns bis nach Hause gefolgt war, hatte sich zurückgezogen, und es war pechschwarze Nacht, bis auf die Lichtblitze in der anstürmenden Brandung.
«Ich habe schon Pipi-Muscheln gesammelt», sagte Miss Lincoln. «Für das Festessen.»
Alle Zutaten waren vorhanden, so, wie sie einst von Frank Sargeson in seinem Buch
Hinauf aufs Dach und wieder herunter
eingehend beschrieben worden waren, in dem er und die Frau, die er K. nannte (Miss Lincoln), die Mahlzeit hier in Mount Maunganui eingenommen hatten. Und während Miss Lincoln unser Essen kochte, zitierte sie wortwörtlich aus Franks Beschreibung: «O Gott, hoffentlich nicht zu viel», indem sie dem Reis Flüssigkeit hinzufügte. Dieser Abschnitt aus Franks Beschreibung gehörte unbestreitbar ihr, und sie brüstete sich mit Wonne der Szene, in der sie und Frank sich die Bühne geteilt hatten.
Sie öffnete eine Flasche Wein. «Der Lieblingswein von Keats», sagte sie. «Sie werden doch sein Haus in London besuchen, nicht wahr, falls Sie das Stipendium bekommen?»
Ich hatte das Gefühl, von den Wünschen anderer mitgetragen zu werden, aber das war in meinem Leben nichts Ungewöhnliches. Diese Eigendynamik machte mir Angst: Ich hatte kein Bedürfnis, irgendwohin zu reisen … Aber wo sollte ich wohnen? Ich wusste, es war Zeit, die Esmonde Road zu verlassen, und es bestand keinerlei Hoffnung auf ein eigenes kleines Haus, mit genügend Geld für alles Notwendige, denn wenn ich beim Literaturfonds um Geld dafür angesucht hätte, würde man es mir sicher verweigern. Die magische Formel war «Erfahrungen sammeln in Übersee».
«Ich nehme an, Sie haben alle möglichen Pläne für England?»
«Na ja …» Ich schämte mich für meine schlichten Wünsche – denn das Gedicht von Wordsworth ging mir nicht aus dem Kopf:
Werft nicht dem heil’gen König eitlen Aufwand vor,
Dem Architekten falsche Ziele (wenn er auch
Nur für ein Grüppchen weißgekleideter Gelehrter
Schuf), der dieses herrliche und ungeheure Werk
Mit feinster Klugheit des Verstandes plante!
Ich träumte davon, King’s College Chapel in Cambridge zu sehen. Ich wollte in der Landschaft des gelehrten Zigeuners herumstreifen und in der von Hardys Romanen; wollte das «Ufer, wo der wilde Thymian wächst» in der Landschaft Shakespeares sehen; und einfach in Kew Gardens inmitten von Flieder spazierengehen! – lauter altmodische Träume im neuen Zeitalter von
Für uns selbst gesprochen
. Ich sehnte mich auch danach, in den Euganäischen Hügeln herumzuwandern,
Manch grüne Insel ist vonnöten
Im Meer des Elends, uns zu retten,
Sonst kann der müde Seemann nicht
Die Fahrt besteh’n auf lange Sicht.
Tag und Nacht und Nacht und Tag …
und es zu sehen,
… das Mittelmeer aus
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