Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
verfügten oder weitere Komplizen im Gebüsch versteckt hatten. Von da an lief alles sehr ernst ab, sachlich und routiniert. Einer der Wachmänner überreichte den Beamten den verkohlten Alfred wie eine Trophäe, und zu meiner Überraschung tauchte plötzlich Edgars Blumenstrauß wieder auf, der wohl ebenfalls als Beweismaterial dienen sollte. Wir würden jetzt nach Weimar auf die Polizeiwache gebracht, hieß es. Ich sah mir die gleißenden Lichter von Buchenwald an und fragte mich, ob wir wohl die Stromrechnung für diesen Einsatz bezahlen mussten. Ich fühlte mich etwas eingeschüchtert, aber Angst hatte ich immer noch nicht. Vielleicht lag es daran, dass ich überzeugt war, mitten in der aufregendsten Geschichte meines Lebens gelandet zu sein. Ich hatte sogar schon damit angefangen, sie mir in Gedanken selber zu erzählen, während sie passierte, und mit unterschiedlichen Formulierungen zu experimentieren.
Wir erreichten die Stadtgrenze. Ich überlegte mir, ob ich wohl eines Tages Blaulicht, Sirene und Handschellen in diese Geschichte einbauen würde, und entschied mich vorerst dagegen. Meine Mutter hatte wieder dieses kleine, stolze Leuchten im Gesicht, das offenbar zu ihren Abgängen aus Buchenwald dazugehörte. Sie hielt meine Hand, aber nicht weil sie mich beruhigen oder trösten wollte, sondern weil wir alle gut zusammenpassten in dieser Nacht.
Meine Armbanduhr zeigte zehn Minuten nach vier. Unser kleiner Konvoi bog nach links in eine Auffahrt ein. Auf dem Schild vor dem großen mehrstöckigen Gebäude konnte ich gerade noch die Aufschrift »Polizeiinspektion Weimar« lesen, bevor wir in die Tiefgarage eintauchten. Der Beamte, der den Streifenwagen gefahren hatte, hielt mir die Tür auf. Obwohl er keine Miene dabei verzog, fand ich die Geste sehr nett. Gabor warf mir beim Aussteigen ein aufmunterndes Lächeln zu und half Hannah aus dem VW-Bus. Ich schloss daraus, dass Hannah sich auf der Rückfahrt angemessen benommen hatte.
Die Polizisten eskortierten uns durch ein Treppenhaus und mehrere Flure, bis wir in einem leeren Dienstzimmer ankamen, das wie ein x-beliebiges Büro aussah und überhaupt nicht wie eine dieser typischen Wachstuben aus dem Fernsehen mit lauter festgenommenen Dealern und Prostituierten. Es roch frisch renoviert. Das Neonlicht ließ alle Gesichter sehr müde aussehen.
Die Aufnahme unserer Personalien begann. Dank meiner Vorabendserien-Bildung wusste ich, dass wir außer den Angaben zur Person keine weiteren Auskünfte geben mussten. Die Polizisten im Fernsehen versuchten es trotzdem immer wieder, aber zu meinem Erstaunen fragte uns hier niemand, was wir da oben auf dem Ettersberg aus welchen Gründen auch immer getrieben hatten, und deshalb kam ich auch nicht dazu, auf einen Anwalt zu verweisen, den ich gar nicht hatte. Ich kam nicht einmal dazu, mein eigenes Geburtsdatum und meinen Wohnort zu nennen, weil meine Mutter das für mich erledigte. Es ist ziemlich frustrierend, als Minderjährige zusammen mit Mutter, Onkel und Tante festgenommen zu werden: Man wird weitgehend ignoriert.
Selbst Hannah gab sich ungewöhnlich wortkarg und vergaß sogar, sich nach dem Blumenstrauß zu erkundigen, womit ich fest gerechnet hatte. Erst Gabor, der als Letzter an der Reihe war, schien das Bedürfnis zu haben, über die Sache zu reden.
»Wissen Sie, unser Vater war jüdischer Häftling in Buchenwald«, begann er. »Wir wollten seinen hundertsten Geburtstag dort feiern …«
Der Gesichtsausdruck von Hannah und meiner Mutter war nahezu identisch. Ich bemerkte zum ersten Mal, dass auch Hannah das Kunststück mit der hochgezogenen Augenbraue beherrschte.
»Die Angaben zur Tat können Sie nach Ihrer Vorladung bei der zuständigen Polizeidienststelle an Ihrem Wohnort machen«, sagte der Beamte und sah noch müder aus als vorher.
»Können Sie uns denn sagen, wie es dann weitergeht? Womit wir zu rechnen haben?«
»Das geht alles an die Staatsanwaltschaft«, antwortete der Beamte. Wir horchten auf.
»Wegen Hausfriedensbruchs?« Meine Mutter war sogar im frühen Morgengrauen eine Meisterin des Genitivs.
»Nein«, sagte der Beamte. »Wegen Störung der Totenruhe. Das ist keine Kleinigkeit.« Seine Stimme wurde eine ganze Oktave tiefer und bedeutungsvoller, als er das sagte, und seltsamerweise sah er mich dabei zum ersten Mal direkt an. Vielleicht ahnte er ja, dass ich in dieser Familie für spirituelle Angelegenheiten zuständig war.
Auf dem Weg nach draußen begegneten wir dem jungen Polizisten mit
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