Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
weitläufige Linkskurve beschrieb, löste auch Véra sich aus dem Windschatten des Mutterschiffs und folgte dem Kurs ihres Bruders. Zusammen sahen sie aus wie ein tanzendes Augenpaar, das sich in Richtung Osten davonmachte.
»Macht’s gut, ihr zwei«, sagte meine Mutter, und ich suchte nach ihrer Hand und drückte sie. »Und danke noch mal für alles. Wir haben nicht vergessen, dass es uns gar nicht geben würde, wenn sie euch nicht umgebracht hätten.«
»So hab ich das noch nie gesehen«, sagte Gabor erstaunt.
»Probier’s mal, das gibt dir ein völlig neues Lebensgefühl«, sagte Hannah, aber es klang überhaupt nicht boshaft, nicht einmal ironisch.
»Ich werde darüber nachdenken«, antwortete Gabor und bückte sich nach den letzten drei Laternen. »Hier ist die für Joschis erste –«
»Pst«, sagte meine Mutter und packte meine Hand fester. »Habt ihr das gehört?«
Keiner rührte sich. Ich hielt die Luft an, aber ich hörte nichts.
»Was war denn?«, flüsterte Hannah.
»Ich dachte, ich hätte eine Stimme gehört«, flüsterte meine Mutter zurück.
Wir warteten noch eine Weile, aber weil nichts weiter passierte, einigten wir uns darauf, die letzten drei Laternen noch fliegen zu lassen und dann schnellstens den Rückzug anzutreten. Auf die feierliche Niederlegung von Edgars Blumenstrauß vorne an der Gedenkstätte des kleinen Lagers beschlossen wir zu verzichten. Dort im Gras, wo er jetzt lag, lag er genauso gut, fand meine Mutter. Hannah sah das etwas anders, aber sie wollte den Extra-Ausflug auch nicht mehr riskieren.
Meine Mutter übernahm in dieser letzten Runde die Laterne für Karl, Hannah die für Mátild, Joschis erste Frau, und ich hielt Alfred in meinen Händen. Ich versuchte mich zur Einstimmung ein bisschen in ihn hineinzuversetzen, aber es klappte nicht, und ich hatte den Eindruck, dass Alfred nichts mit unserem Ritual zu tun haben wollte. Vielleicht wäre ihm ein anständiger Whisky lieber gewesen. Ich wollte es gerade meiner Mutter vorschlagen, aber sie hatte sich mit einem derart liebevollen Gesichtsausdruck auf Karls Laterne konzentriert, dass ich es bleiben ließ. Nachdem Gabor alle drei Brennelemente angezündet hatte, entdeckte ich an einer Seitennaht einen kleinen Riss. Ich dachte mir nichts dabei, zumal sich Alfreds Papierhülle im gleichen Tempo aufzublähen begann wie die beiden anderen.
»Ich lass meine gleich los«, kündigte Hannah an.
»Wartet«, sagte ich. »Ich bin noch nicht ganz so weit.«
Irgendwas war komisch mit Alfred. Oder mit mir. Ich überlegte gerade, ob es vielleicht an meiner ambivalenten Einstellung zu ihm lag, die sich irgendwie auf die Laterne übertragen hatte, als meine Mutter plötzlich »Auf geht’s, Karl« sagte und losließ. Hannah und ich taten es ihr nach.
Im gleichen Moment wusste ich, dass es ein Fehler gewesen war. Während Karl pfeilgerade nach oben stieg und Mátild ohne zu zögern seiner Route folgte, geriet Alfreds Laterne bereits nach den ersten zwei, drei Höhenmetern ins Trudeln, driftete nach rechts in Richtung des Lagers, schwebte wieder ein ganzes Stück aufwärts und legte sich dann plötzlich auf die Seite. Erst sah es aus, als wäre die Flamme erloschen, aber dann flackerte sie wieder auf und schien der Laterne noch einmal einen gehörigen Schub nach oben zu verpassen. Und dann sahen wir es.
»Alfred brennt«, sagte meine Mutter.
»Ach du Scheiße«, sagte Hannah. »Meint ihr, der kann hier irgendwie Unheil anrichten?«
Ich stellte mir vor, wie Alfred das Torgebäude in Brand setzte, ein symbolischer Akt der Befreiung und der Versöhnung. Vielleicht hatte ich ihn ja die ganze Zeit unterschätzt.
»Dazu ist hier alles zu feucht«, sagte meine Mutter. »Los, verschwinden wir.«
»Ich glaube, er kommt gleich runter«, sagte ich.
Keinem von uns gelang es, den Blick vom brennenden Alfred am dunklen Nachthimmel abzuwenden. Er fackelte nicht einfach ab, wie ich es von meinen selbst gebastelten Laternen aus dem Kindergarten kannte, sondern schien ein System zu haben, das ihn trotz der Flammen erstaunlich lange fliegen ließ.
»Er sieht aus wie die brennende Hindenburg in Lakehurst«, stellte Hannah fest.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Das vorläufige Ende der Verkehrsluftschifffahrt«, sagte meine Mutter. »Ein Zeppelin, der in den Dreißigerjahren verunglückte.«
»Achtung, jetzt«, kündigte Gabor an, der sich bisher noch nicht zu dem Vorfall geäußert hatte.
Alfreds Abgang war fast kometenhaft im Gegensatz zu seinem
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