Ein Fall für Kay Scarpetta
Eingangstür, die weit offenstand und durch ein gelbes Band versperrt war, auf dem stand: Polizeiliche Ermittlungen - Betreten verboten.
"Doc."
Er hätte mein Sohn sein können, dieser Junge in Blau, der auf der obersten Stufe zur Seite trat und das Band hob, um mich darunter hindurch zu lassen.
Das Wohnzimmer war tadellos und ansprechend eingerichtet, in warmen rosa Tönen. Auf einer hübschen Kirschholzkommode in einer Ecke stand ein kleiner Fernseher und ein CD-Player. Daneben war ein Regal, auf dem Notenblätter und eine Violine lagen. Unter einem Fenster mit Vorhang, das auf den Vorgarten blickte, stand ein aufklappbares Sofa, und auf dem gläsernen Couchtisch davor lag ein halbes Dutzend Zeitschriften ordentlich gestapelt. Unter ihnen waren der Scientific American und das New England Journal of Medicine. Auf einem chinesischen Drachenteppich mit einem roten Medaillon auf cremefarbenem Grund stand ein Bücherregal aus Walnußholz. Zwei Reihen davon waren vollgestellt mit medizinischen Lehrbüchern.
Eine offene Tür führte auf einen Gang, der die gesamte Länge des Hauses einnahm. Auf der rechten Seite befanden sich einige Zimmer, auf der linken war die Küche, wo Marino und ein junger Beamter mit einem Mann sprachen, von dem ich annahm, daß es der Ehemann war.
Ich registrierte die sauberen Oberflächen, das Linoleum und die Einrichtung in einem gedeckten Weiß, das die Hersteller "Mandel" nennen, und das blasse Gelb der Tapete und der Vorhänge. Meine Aufmerksamkeit wurde auf den Tisch gelenkt. Auf ihm lag ein roter Nylonbeutel, dessen Inhalt von der Polizei untersucht worden war: ein Stethoskop, eine Stablampe, eine Tupperdose, in der einmal eine Mahlzeit gewesen war, und die letzten Ausgaben der Annals of Surgery, des Lancet und des Journal of Trauma. Ich war irritiert.
Marino sah mich kalt an, als ich bei dem Tisch innehielt, dann stellte er mich Matt Petersen, dem Ehemann, vor. Petersen saß zusammengesunken auf einem Stuhl, sein Gesicht war von dem Schock gezeichnet. Er war außerordentlich gutaussehend, fast schön, seine Gesichtszüge makellos geschnitten, das Haar pechschwarz, seine Haut weich, mit einem Hauch von Bräune. Er hatte breite Schultern und einen schlanken, gutgeformten Körper, und er hatte ein einfaches Hemd und verwaschene Bluejeans an. Seine Augen schauten nach unten, seine Hände lagen verkrampft in seinem Schoß.
"Sind die von ihr?" Ich mußte es wissen. Die medizinischen Utensilien konnten ihm gehören.
Marinos "Ja" bestätigte es.
Petersens tiefblaue, rotunterlaufene Augen hoben sich langsam. Er schien erleichtert zu sein, als er mich erblickte. Der Arzt war gekommen, ein Funke der Hoffnung, wo es keine gab. Er murmelte in den abgehackten Sätzen eines verstörten überraschten Geistes: "Ich habe sie gestern am Telefon gesprochen. Gestern abend. Sie sagte, sie würde gegen halb zwölf nach Hause kommen, aus der Uniklinik, Notaufnahme. Ich kam hier an, sah, daß die Lichter aus waren, dachte, sie wäre schon zu Bett gegangen. Dann ging ich dort rein." Seine Stimme hob sich, zitterte, und er atmete tief ein. "Ich ging dort hinein, in das Schlafzimmer." Seine Augen waren verzweifelt und verquollen, und er flehte mich an. "Bitte. Ich möchte nicht, daß die Leute sie sehen, sie so sehen. Bitte."
Ich sagte sanft: "Sie muß untersucht werden, Mr. Petersen."
Eine Faust knallte auf den Tisch in einem überraschenden Wutausbruch. "Ich weiß!" Seine Augen funkelten wild. "Aber all die anderen, die Polizei, jeder!" Seine Stimme zitterte. "Ich weiß, wie das ist! Reporter und alle möglichen Leute, die überall herumwimmeln. Ich will nicht, daß jeder verdammte Wichser sie ansieht!"
Marino zeigte keine Regung: "Hey, ich habe auch eine Frau, Matt. Ich weiß, was in Ihnen vorgeht, okay? Ich gebe Ihnen mein Wort, daß sie mit allem Respekt behandelt wird. Denselben Respekt, den ich erwarten würde, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, okay?"
Der süße Klang von Lügen. Die Toten können sich nicht verteidigen, und die Vergewaltigung dieser Frau, wie auch die der anderen, hatte erst begonnen. Ich wußte, daß das Ganze erst ein Ende hätte, wenn Lori Petersen vollkommen auseinandergenommen worden war, jeder Zentimeter von ihr fotografiert, und alles für die Experten, die Polizei, Staatsanwälte, Richter und Geschworenen auf dem Präsentierteller lag. Es würden Überlegungen über die Merkmale an ihrem Körper geäußert werden. Es würden kindische Witze und zynische Bemerkungen fallen,
Weitere Kostenlose Bücher