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Ein Fall zu viel

Ein Fall zu viel

Titel: Ein Fall zu viel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Scharenberg
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größeren Pfützen auszuweichen. Wenigstens regnete es jetzt nicht mehr, und es tat ihr gut, die feuchte Waldluft einzuatmen. Das Laufen hatte sich zu einem festen Bestandteil in ihrem Leben entwickelt. Sie empfand es als Ausgleich, als Ventil. In seltenen ehrlichen Momenten gestand sie sich ein, dass sie in gewisser Weise ihren Traumata davonrannte.

    Der Weg führte in einer kleinen Steigung weiter geradeaus. Auf diesem Stück war es trockener, und sie konnte es sich leisten, von der Erde aufzusehen. Erst jetzt fiel ihr auf, wie dunkel es schon für diese Uhrzeit war. Kein Wunder, dass ihr bisher weder andere Jogger noch Spaziergänger begegnet waren. Sie drehte den Kopf nach hinten, aber da war niemand. Ein Gefühl von Einsamkeit übermannte sie. Unwillkürlich drängten sich schreckliche Erinnerungen in ihr Bewusstsein. Am liebsten hätte sie laut aufgeschrien, um die Bilder zu verscheuchen. Blöde Pute, schalt sie sich, lass nicht zu, dass die Vergangenheit dein Leben bestimmt. Du bist nicht mehr die wehrlose, kleine Schülerin. Trotzdem beschleunigte sich ihre Atmung.
    Hatte sie da nicht soeben ein verdächtiges Knacken wahrgenommen? Ängstlich schaute sie zu dem Dickicht auf der rechten Seite, konnte jedoch nichts erkennen. Sie überlegte einen kurzen Moment, dann entschloss sie sich, unverzüglich umzukehren. Auf einmal war es ihr egal, ob sie ihre Angst damit zementierte. Hier war es nass, ungemütlich und menschenleer. Sie hatte einfach keine Lust mehr, im Wald herumzulaufen.
    Abrupt blieb sie stehen. Erneut hatte sie ein Geräusch vernommen. Es kam aus derselben Richtung. Automatisch wurde ihr Mund trocken, die Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Sie wagte kaum, wieder ins Dickicht zu spähen, trotzdem überwand sie sich. Etwas Dunkelrotes bewegte sich, doch im nächsten Augenblick war es verschwunden. Egal, was es war, sie musste so schnell wie möglich von hier fort. Sie wollte lossprinten, brachte aber nur ein Stolpern zustande. Wilde Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Das konnte unmöglich ein Tier gewesen sein, wahrscheinlich eher der Zipfel eines roten Trikots. Aber weshalb hatte sich der Träger im Dickicht versteckt? Was hatte das zu bedeuten?
    Mit zitternden Knien lief sie vorwärts. Plötzlich hörte sie ganz deutlich ein Geräusch, das klang, als brächen Äste. Schweißtropfen traten auf ihre Stirn. Mit geweiteten Pupillen sah sie sich um. Nicht allzu weit hinter ihr erkannte sie wieder etwas Rotes. Es kam näher, verschwamm vor ihren Augen. Warum heulte sie jetzt? Nein, warum schrie alles in ihr? Während sie weiterhetzte, pochte ihr Herz bis zum Hals. Für einen Moment geriet sie in Versuchung, das Handy aus der Tasche zu ziehen. Aber sie war nicht einmal sicher, ob sie sich tatsächlich in Gefahr befand. Vielleicht waren es nur die Schatten aus ihrer Vergangenheit. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren und versuchte, ruhig zu atmen. Dann schaute sie zurück. Ihr Aten beschleunigte sich.
    Auf dem Weg rannte ein Mann mit einer roten Trainingsjacke.
    Fragen schossen genauso schnell durch ihren Kopf wie Adrenalin durch ihre Adern. War das der Mann, der sich zuvor im Dickicht versteckt hatte? Wenn ja, warum und wie war er unbemerkt hinter sie auf den Weg gekommen? Was hatte er vor? Hatte er es auf sie abgesehen? Wäre sie schnell genug, um ihm davonzulaufen? Sie beschleunigte. Hinter ihrer Stirn hallten die Fragen nach. In ihren Schläfen pochte das Blut. Sie keuchte. Lange würde sie dieses Tempo nicht durchhalten können. Der Waldboden dämpfte das Geräusch ihrer Tritte. Auch die des Mannes. Womöglich war er schon ganz nah. Ihre Knie zitterten erneut.
    In wilder Panik drehte sie sich um. Der Verfolger hatte tatsächlich aufgeholt. Sie wollte sprinten, aber es gelang ihr nicht. Unwillkürlich schnellte ihr Kopf wieder in seine Richtung. Hilfe, die rote Jacke war ganz dicht hinter ihr. Ein verzweifelter Laut entfuhr ihrer Kehle. Sie stolperte. Der weiche Boden dämpfte ihren Fall. Drohend stand der Mann plötzlich vor ihr. Sein Blick wirkte wirr. Als er sich zu ihr hinunterbeugte, schien ihr Herz einen Schlag lang auszusetzen. Sie wimmerte. Dabei hätte sie besser geschrien. Aber wahrscheinlich würde sie ohnehin niemand hören. Das Zittern ihrer Knie erfasste ihren gesamten Körper. Während sie ihren Herzschlag nun seitlich ihrer Gurgel spürte, starrte der Verfolger sie mit, wie es ihr vorkam, wild entschlossener Miene an. Für einen kurzen Augenblick glaubte sie, ihn schon einmal

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