Ein Fall zu viel
gesehen zu haben. Oder spielten ihr die Nerven einen Streich?
Plötzlich schnellte der Mann nach unten.
»Hilfe, Hilfe!« Ihre Stimme klang unerwartet kräftig. Schnell jedoch drückte sich seine Hand auf ihren Mund. Ihr Schrei erstickte. Sie wollte um sich schlagen, aber dann sah sie das Taschenmesser in seiner Hand. Wie gelähmt verharrte sie, ließ schließlich die Arme sinken.
»Ihr macht mich nicht fertig«, zischte er mit funkelnden Augen. »Notfalls bringe ich euch alle um.«
Der ist verrückt, rauschte es durch ihren Kopf, total verrückt. Dabei wusste sie nicht, ob sie das beruhigen sollte. Konzentrier dich, ermahnte sie sich, nur so hast du eine Chance. Sie visierte das Messer. Die Waffe wanderte nach links und hielt dann etwa eine Handbreit von ihrem Ohr entfernt an. Sollte sie es versuchen? Oder war es zu riskant, auch wenn sie die Reaktion in der Fantasie so oft durchgespielt hatte? Ein letzter Blick in diese seltsamen Augen, dann setzte ihr Verstand aus, und ihr Knie schnellte gegen sein Geschlecht. Der Mann verzog das Gesicht. Julia nutzte den Moment und sprang hoch. Als er die Hände nach ihr ausstreckte, zielte sie erneut auf seine empfindlichste Stelle, diesmal mit dem Fuß. Während er aufjaulte, drehte sie sich um und rannte los. Erst war es mehr ein Stolpern, aber nach und nach schienen ihre Beine ihr wieder zu gehorchen. Nur ihr Herz klopfte immer noch wie wild. Dabei wagte sie nicht, sich umzusehen. Als hätte sie Angst, sein Anblick könne ihre Bewegung lähmen.
Endlich hatte sie die ersten Gebäude der Universität erreicht. Die letzten Veranstaltungen waren zu Ende, aber sicher trieben sich hier noch einige Leute herum. Julia drehte den Kopf nach hinten. Niemand zu sehen. Offensichtlich war der Mann ihr nicht gefolgt. Dennoch sträubte sich alles in ihr, den Lauf zu verlangsamen. Vielleicht hatte er einen anderen Weg gewählt und lauerte ihr auf dem Gelände der Uni auf. Mit einem Mal traten drei Frauen mit Kopftuch aus einem Gebäude. Bei ihrem Anblick füllten sich Julias Augen mit Tränen der Erleichterung. Trotzdem gönnte sie sich keine Pause und lief weiter zu dem fast leeren Parkplatz, auf dem ihr verbeulter Twingo stand. Wenig später schloss sie den Wagen auf, sank auf den Fahrersitz und verriegelte das Auto. Mit zitternden Händen umklammerte sie das Lenkrad. Denk nach, ermahnte sie sich, denk nach. Die wilden Gedanken in ihrem Kopf ließen sich jedoch kaum bändigen.
Plötzlich zuckte sie zusammen. Aus dem Augenwinkel hatte sie etwas Rotes gesehen. Ein Schuss Adrenalin rauschte durch ihre Adern. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie den Autoschlüssel nicht ins Zündschloss stecken konnte. Sie zwang sich, den Kopf zu drehen. Das Rot entpuppte sich jedoch als Haarfarbe einer jungen Frau.
Erleichtert stieß Julia die Luft aus, die sie unwillkürlich angehalten hatte. Dann lachte sie ein hysterisches Lachen. Sie musste fort von hier. Woanders würde es ihr leichter fallen, über den nächsten Schritt nachzudenken. Sie beobachtete, wie die Studentin mit den flammend roten Haaren in ihren Polo stieg. Als das Auto anfuhr, startete sie ebenfalls und rollte wenige Meter hinter dem Wagen vom Gelände der Universität.
10. Kapitel
Als Pielkötter an diesem Arbeitstag nach Hause zurückkehrte, fühlte er sich ziemlich erschöpft. Etliche Male war er den Bericht der Spurensicherung durchgegangen und hatte mit einigen von Lützows Nachbarn telefoniert. Der erste Schrei rechtfertigte diesen Arbeitsaufwand. Im Grunde war der nur zu erklären, wenn man von einem Mord ausging. Warum sonst sollte Lützow vor seinem freiwilligen Sturz geschrien haben?
Nun sehnte Pielkötter sich nach einem friedlichen Feierabend, war allerdings nicht sicher, ob Marianne das genauso sah. Schon von Weitem erkannte er einen roten Porsche, der vor seinem Grundstück parkte. Er stutzte. Diesen Schlitten hatte er garantiert noch nie in seiner Straße gesehen. Mit ungutem Gefühl fuhr er die Auffahrt zu seiner Garage hoch, stellte den Motor ab und stieg aus.
Er hatte die Haustür kaum richtig geöffnet, da schlug ihm der Geruch eines aufdringlichen Parfüms entgegen. Was hatte das zu bedeuten? Das war sicher kein Duft, den Marianne auftragen würde. Aus dem Wohnzimmer drangen Stimmen, dann lachte jemand laut auf. Das Lachen klang ziemlich schrill in seinen Ohren.
Nachdem er seine Jacke ausgezogen hatte, drückte er missmutig die Klinke der Wohnzimmertür hinunter. Der Anblick, der sich ihm bot, irritierte
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