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Ein Fall zu viel

Ein Fall zu viel

Titel: Ein Fall zu viel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Scharenberg
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Warum musste ihre Kommilitonin heute nur so einen Ärger machen? Erst schwänzte sie, ohne ihr vorher Bescheid zu sagen, und nun machte Nicole sie auch noch in der Vorlesung von Professor Brinkmann zum Affen. Gerade bei Brinkmann, da würde sie wirklich jeden anderen Dozenten vorziehen. Einige hätten das vielleicht mit einem lockeren Spruch abgetan, aber nicht der. Bei dem war sie erst einmal unten durch. Bis zur Prüfung würde sie gehörige Anstrengungen unternehmen müssen, damit der Patzer in Vergessenheit geriet. Na ja, bis dahin blieben ihr zum Glück noch zwei Semester Zeit.
    Am liebsten wäre Julia Deche einfach aus der Vorlesung gestürmt, hätte das Handy wieder eingeschaltet und Nicole zusammengestaucht. Die Koordinatensysteme an der Leinwand interessierten sie herzlich wenig, aber sie musste zumindest den Eindruck machen, als würde sie aufmerksam zuhören. Einen weiteren Schnitzer konnte sie sich wahrlich nicht leisten.
    Die Vorlesung rauschte an ihr vorbei. Warum musste sich immer alles gegen sie verschwören? Was hatte sie mit Anfang zwanzig nicht schon erlebt, was anderen Menschen ein ganzes Leben lang niemals passieren würde? Aber daran wollte sie jetzt nicht denken, zumindest nicht an das schrecklichste Ereignis. Nie mehr. Sie sah angestrengt nach vorn, blickte auf diverse Diagramme, ohne sie zu verstehen.
    Plötzlich verschwanden die vor ihren Augen, die Leinwand war dunkel. Einige Kommilitonen klopften. Endlich konnte sie aus dem Hörsaal eilen. Als sie aus dem Sichtfeld der meisten Zuhörer war, schaltete sie wütend das Handy wieder ein. Der entgangene Anruf stammte tatsächlich von Nicole.
    »Was ist los?«, schrie sie wenig später in den Hörer.
    »Tut mir leid«, schallte es kleinlaut zurück. »Hier hat sich alles überschlagen. Kevin hat seinen Job verloren. Arbeitslos von einem Tag auf den anderen. Der ist völlig fertig. Ich konnte den unmöglich alleinlassen.«
    Julia seufzte. »Okay, du bist also jetzt mit Kevin beschäftigt, und unser Jogging fällt flach.«
    »Wenn du das so interpretieren willst ...«
    »Dann tröste du deinen Liebsten, und ich lauf dann ohne dich«, erwiderte Julia enttäuscht.
    Wie blöd hast du denn jetzt reagiert, schalt sie sich, nachdem sie das Gespräch abrupt beendet hatte. Natürlich war Kevin, dieses Muttersöhnchen, eine Nummer für sich, aber trotzdem konnten auch ihn ernsthafte Sorgen plagen. Und Nicole war nicht der Typ, der einen Menschen mit Schwierigkeiten ignorierte, erst recht nicht Kevin. Das hatte nicht einmal nur etwas mit dem Phänomen »vor Liebe blind« zu tun, sondern lag vor allem an Kevins Geschick, seine ureigensten Probleme erfolgreich nicht nur als eine persönliche, sondern auch als eine Art gesellschaftliche Katastrophe darzulegen. Leider hieß das auf den heutigen Tag bezogen, allein in dem Waldstück südlich der Universität zu joggen. Bei dem Gedanken war Julia etwas mulmig. Aber sie würde sich auf keinen Fall davon abhalten lassen, nur weil Kevin einen auf Heulsuse machte.
    Bei dem lässigen Outfit der Kommilitonen war es nicht weiter aufgefallen, dass sie ihre Jogginghose bereits angezogen hatte. Das einfache T-Shirt erregte ohnehin kein Aufsehen. Die Studenten der Universität Duisburg-Essen waren in dieser Hinsicht bestimmt lockerer als anderswo.
    Missmutig lief sie zum Parkplatz. Dort deponierte sie die Tasche mit den Utensilien für die Vorlesung im Kofferraum ihres Wagens. Anschließend trabte sie nach Süden. Es dauerte nicht lange, bis der Campus aus ihrem Blickfeld verschwand. Auf einer kleinen Brücke überquerte sie erst die Eisenbahnschienen, dann die Autobahn. Jetzt hatte sie das riesige Waldstück hinter der Universität erreicht. Sie schielte zum Himmel. Der hatte heute nur eine geschlossene Wolkendecke zu bieten, die weitaus Schlimmeres verhieß. Nicole hätte sie sicher zu einem Drink im Finkenkrug überredet, statt zu laufen, aber die war nun einmal nicht hier. Zudem hatte Julia nicht vor, ihren ursprünglichen Plan wegen Kevins Gefühlslage zu verschieben oder weil sie selbst sich von den alten Ängsten leiten ließ. Bisher war sie im Wald noch niemals allein joggen gewesen, und das aus gutem Grund. Trotzdem wurde es wirklich Zeit, die Ängste abzulegen, die sie manchmal daran hinderten, ein ganz normales Leben zu führen.
    Mit entschlossener Miene erhöhte sie das Tempo. Der Waldboden unter ihren Füßen war zum Teil etwas matschig vom Regen, aber das machte ihr nichts. Schließlich gab es genug Platz, den

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