Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
hatte.
Der Baron führte uns zum Stall, der hell, luftig und friedlich war. Capriola hatte es gut getroffen. Und dann sah ich ihn auf einmal: In der letzten Box, ganz hinten am Ende der Stallgasse, stand er und hatte den Kopf aufgeregt nach oben gerissen. Die Augen geweitet, die Nüstern gebläht, starrte er wie hypnotisiert in unsere Richtung.
Ich rief ihn. Wie früher. »Capriola! Mein Junge!«
Ein Ruck ging durch das Pferd. Er fuhr herum, drehte sich hektisch und völlig aufgebracht in seiner Box um sich selbst, stampfte mit den Hufen auf den Boden und war nicht mehr zu beruhigen. Ein Schauspiel sondergleichen. Emotional bewegend, umwerfend. Als ich die Boxentür aufmachte, schoss er auf mich zu, stupste mich an, wirbelte erneut durch das Stroh, schoss wieder auf mich zu und beroch mich. Es war, als wollte er sagen: »Echt? Wirklich? Bist du das? Kann ich gar nicht glauben! Was freue ich mich. Du? Hier? Toll!« Er brauchte Zeit, um sich wieder zu beruhigen. Wir alle brauchten einen Moment. Ich stand gerührt und weinend in der Box und wartete geduldig ab, bis Capriola ruhiger wurde. Früher, nach der Arbeit, machte ich mir einen Spaß daraus, ihn zu fragen: »Willst du noch arbeiten?« Wenn Capriola dann mit dem Kopf schüttelte, dann holte ich ihm zur Belohnung ein Stück Zucker aus meiner rechten Hosentasche. Und was machte er heute? Fünf Jahre später? Er stupste mit der Nase an meine rechte Hosentasche, ging vor mir ein Stück zurück, schüttelte den Kopf und schaute mich an. »Hey du«, schien er zu sagen, »mein Stück Zucker! Schon vergessen?«
MEIN Capriola! All die Jahre hatte ich gespürt, dass auch er mich nicht vergessen würde. Als ich mich umdrehte zu Felix und dem Baron, standen die beiden nebeneinander ehrfürchtig vor der Box. Verlegen wischten sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Die Stimme des Barons zitterte, als er sprach. Er, einer der größten Lipizzaner-Liebhaber und Experte dieser ganz speziellen Rasse, erklärte bewegt und gerührt: »DAS habe ich testen wollen. Ich wollte wissen, wie Capriola auf Sie reagiert. Und ich hatte es mir gedacht, all die Jahre: dass dieses Pferd Sie nie vergessen würde! Wissen Sie, Frau Birkhoff, Herr Birkhoff, wissen Sie, dass Capriola sich nie wieder reiten ließ? In der zweiten Woche hat er meine Frau abgeworfen, da wussten wir, dass er nur einen Menschen richtig akzeptiert, und das sind Sie, Frau Birkhoff. Nur Sie.«
Capriola hatte mich NIE abgeworfen. Er war kein Pferd von der Sorte, die ihren Reiter abwarfen. Das war so weit entfernt, wie ein chinesischer Nackthund niemals ein Polizeihund wird. Unmöglich und gänzlich ausgeschlossen.
»Er war nicht böse, Frau Birkhoff. Das war er nicht, und das haben wir gleich gemerkt. Wir reiten ihn seit fünf Jahren nicht mehr. Wir erfreuen uns an seiner Schönheit, und er ist jeden Tag mit den anderen Pferden draußen auf der Weide. Möchten Sie ihn mal rausholen? Arbeiten Sie doch mit ihm. Ich bin gespannt, was er uns präsentiert.«
DAS musste man mir nicht zweimal sagen. Als ich mit dem Pferd die Reithalle betrat, setzte sich Capriola in Bewegung. An der Longe. Ich wollte ihm zunächst vom Boden aus zuschauen und ihn beobachten. Capriola spulte sein Programm ab, als sei kein Tag vergangen. Das Tier war nicht mehr zu bremsen: piaffierte und passagierte sich die Seele aus dem Leib, und ich stand daneben und fand den Knopf zum Abschalten nicht mehr. Das Pferd war so übereifrig und verrückt nach Arbeit, dass es Lektionen zeigte, für die es nach so vielen Jahren ohne Training kaum noch Kraft hatte.
In der Halle ließ ich ihn frei laufen. Mein alter Junge war schweißgebadet und wirkte selig und zufrieden. Wie früher klebte er an meiner Seite und folgte mir. Ich wollte ihn wiederhaben, verstehen Sie das? Ich wollte ihn am liebsten gleich mitnehmen und wieder nach Hause holen, aber der Baron gab das Pferd nicht her. Er lud uns zum Essen ein und erklärte, dass er dieses Pferd so lange bewundern und betrachten wolle, bis er und seine Frau gesundheitlich zu schwach seien. Seine Frau war derzeit in den Staaten und unterzog sich einer Therapie. Sie hatte Multiple Sklerose. Der Baron hatte mit Herzinfarkten zu kämpfen und war schwach auf den Beinen. Er war voller Hingabe für Capriola, sodass ich mich schämte, überhaupt mein Anliegen vorgebracht zu haben. Wir, so klärte uns der Baron auf, wir seien heute hier, weil er prüfen wollte, ob das Tier im Falle eines Falles wieder zu uns zurückkehren könne.
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